Zum Hauptinhalt springen

Eine Rekonstruktion getaggt mit "Gettier"

Alle Tags anzeigen

· 12 Minuten Lesezeit
Als PDF herunterladen
In seinem Dialog Theätet lässt Platon gegen Ende seinen Sokrates den folgenden Vorschlag eines Definiens (das heißt: eines definierenden Ausdrucks) für das Definiendum „Wissen“ diskutieren: „gerechtfertigte wahre Meinung“. Obwohl Sokrates den Vorschlag ganz am Ende des Dialogs verwirft (!), hat man ihn lange für ein im Prinzip gelungenes Definiens für „Wissen“ gehalten und daher eine so genannte JTB-Definition des Wissens vertreten („JTB“ = „justified true belief“). Das hat sich geändert durch einen drei Seiten langen Aufsatz, den der (ansonsten nicht weiter prominente) Philosoph Edmund Gettier 1963 veröffentlicht hat (übrigens: Der Name „Gettier“ wird amerikanisch ausgesprochen und auf der ersten Silbe betont). Gettier beschrieb in diesem Aufsatz einige Fälle, die er als Gegenbeispiele zur JTB-Definition ansah. Damit begann eine neue Epoche in der Erkenntnistheorie. Im Folgenden wird der erste der Gettier-Fälle rekonstruiert.

Bibliographische Angaben

Edmund Gettier: “Is Justified True Belief Knowledge?”, Analysis 23/6 (1963), 121-123. [PhilPapers] [DOI]

Textstelle

Die Beschreibung des ersten Gettier-Fall lautet im Original (Absätze, Auslassungen und Vokabelhinweise in eckigen Klammern: Niko Strobach):

[ \ldots F]or any proposition P, if S is justified in believing P, and P entails Q, and S deduces Q from P [ \ldots ], then S is justified in believing Q. [ \ldots ]
Suppose that Smith and Jones have applied for a certain job. And suppose that Smith has strong evidence [=starke Indizien] for the following conjunctive proposition [=Konjunktion]:

    (d) Jones is the man who will get the job, and Jones has ten coins in his pocket.

Smith's evidence for (d) might be that the president of the company assured him that Jones would in the end be selected, and that he, Smith, had counted the coins in Jones's pocket ten minutes ago. Proposition (d) entails [=impliziert]:

    (e) The man who will get the job has ten coins in his pocket.

Let us suppose that Smith sees the entailment from (d) to (e), and accepts (e) on the grounds of (d), for which he has strong evidence. In this case, Smith is clearly justified in believing that (e) is true.
But imagine, further, that unknown to Smith, he himself, not Jones, will get the job. And, also, unknown to Smith, he himself has ten coins in his pocket.
Proposition (e) is then true, though proposition (d), from which Smith inferred (e) is false. In our example, then, all of the following are true:
(i) (e) is true,
(ii) Smith believes that (e) is true,
(iii) Smith is justified in believing that (e) is true.
But it is equally clear that Smith does not know that (e) is true.”

Argumentrekonstruktion

I) Ein komplexes Argument mit Kennzeichnungen

Gettiers Text ist so klar strukturiert, dass man sich vielleicht fragt: Wozu da noch eine Rekonstruktion? Tatsächlich ist das Argument komplexer, als es auf den ersten Blick aussieht. Um es im Kern zu verstehen, braucht man nämlich etwas Theorie der Kennzeichnungen (auch „definite Beschreibungen“ genannt, zuerst 1905 entwickelt von Bertrand Russell). Die Gültigkeit des Arguments mit dem ersten Gettier-Fall hängt entscheidend davon ab, dass Kennzeichnungen darin vorkommen. Eine Kennzeichnung hat typischerweise die Form

„derjenige, der die Bedingung F erfüllt.“

Der Kern von Gettiers Argument ist das Beispiel mit Smith und Jones. Man sollte aber nicht seine äußere Schale übersehen.

II) Die Schale

Die Schale besteht in einem modus tollens-Argument, wie es typisch ist für die Widerlegung eines Definitionsvorschlags. Ein modus tollens hat die folgende Form: Wenn p, dann q; nun aber nicht q; also nicht p.

P1 Wenn die JTB-Definition für „Wissen“ angemessen ist, dann weiß Smith, dass der Satz „Derjenige, der den Job kriegt, hat 10 Münzen in der Tasche“ wahr ist.
P2 (Aber) Smith weiß nicht, dass der Satz „Derjenige, der den Job kriegt, hat 10 Münzen in der Tasche“ wahr ist.
Also ist die JTB-Definition von „Wissen“ nicht angemessen. (modus tollens aus P1, P2)

Wie ist P1 motiviert? Smith erfüllt alle drei Klauseln des JTB-Definiens für „Wissen“. Wie ist P2 motiviert? Durch semantische Intuition zum Wort „Wissen“ angesichts der Geschichte über Smith („Der hat doch kein Wissen!“). Ist P2 wahr, so gibt es wenigstens einen Fall, der das JTB-Definiens erfüllt, aber intuitiv kein Fall von Wissen ist: den von Smith. Das JTB-Definiens ist somit für das Definiendum (den zu definierenden Ausdruck) „Wissen“ zu weit.

III) Der Kern

Der Kern des Arguments soll P1 etablieren, indem gezeigt wird: Smith erfüllt alle drei Bedingungen des JTB-Definiens für „Wissen“. Die Struktur dieses Kern-Arguments, das P1 aus dem Schalen-Argument begründet, lässt sich dementsprechend so fassen:

P*1Wenn die JTB-Definition für „Wissen“ angemessen ist, dann gilt: S weiß genau dann, dass p, wenn gilt: p ist wahr und S glaubt, dass p wahr ist, und S ist berechtigt, zu glauben, dass p.
P*2 „Derjenige, der den Job kriegt, hat 10 Münzen in der Tasche“ (= p) ist wahr.
P*3Smith glaubt, dass „Derjenige, der den Job kriegt, hat 10 Münzen in der Tasche“ wahr ist.
P*4Smith ist berechtigt, zu glauben, dass „Derjenige, der den Job kriegt, hat 10 Münzen in der Tasche“ wahr ist.
P1 (als Konklusion)Wenn die JTB-Definition für „Wissen“ angemessen ist, dann weiß Smith, dass der Satz „Derjenige, der den Job kriegt, hat 10 Münzen in der Tasche“ wahr ist.

Die erste Prämisse dieses Arguments ist bereits erläutert worden. Entscheidend sind also die drei übrigen Prämissen, in denen es jeweils um den Satz „Derjenige, der den Job kriegt, hat 10 Münzen in der Tasche“ geht, Gettiers Satz (e). In Wahrheit jedoch sind an dieser Stelle eine ganze Reihe von verschiedenen Sätzen im Spiel. Und deren Beziehungen müssen wir genauer ins Auge fassen, um zu verstehen, wie P*2, P*3 und P*4 jeweils begründet sind.

Im Folgenden soll zunächst in einer Tabelle der Status dieser Reihe von Sätzen im Hinblick auf drei Parameter festgehalten werden, wie die von Gettier erzählte Geschichte ihn vorgibt.

Satz\ldots ist wahr\ldots wird von Smith geglaubt\ldots ist, was Smith gerechtfertigt ist zu glauben
[1] Jones, und nur er, kriegt den Job.neinjaja
[2] Jones kriegt den Job nicht.janeinnein
[3] Jones hat zehn Münzen in der Tasche.jajaja
[4] Jones, und nur er, kriegt den Job, und er hat zehn Münzen in der Tasche.neinjaja
[5] Smith, und nur er, kriegt den Job.janeinnein
[6] Smith hat zehn Münzen in der Tasche.janeinnein
[7] Smith, und nur er, kriegt den Job, und er hat zehn Münzen in der Tasche.janeinnein
[8] Derjenige, der den Job kriegt, hat zehn Münzen in der Tasche.ja

[4] ist Gettiers Satz (d), [8] sein Satz (e).

Die entscheidende Frage ist: Muss in den beiden freien Kästen in Zeile 8 auch „ja“ stehen? Wenn das so ist, dann erfüllt Smith alle drei Klauseln des JTB-Definiens. Das „ja“ in der mittleren Spalte sichert bereits P*3 in der obigen Rekonstruktion des Kern-Arguments. Wenn links „ja“ steht, ist auch P*2 wahr, wenn rechts auch „ja“ steht, ebenso P*4.

Machen wir uns zunächst noch einige Einzelheiten zur Tabelle klar:

1) Zeile 1, rechte Spalte: Dies ist Gettiers Meinung. Vgl. dazu unten den Kommentar.
2) Zeile 4, mittlere Spalte: Hier steht „ja“, denn [4] ist die Konjunktion von [1] und [3], und wer die Teilsätze einer Konjunktion glaubt (wie Smith laut Z.1 und Z.3, mittlere Spalte), der glaubt auch die Konjunktion.
3) Zeile 4, rechte Spalte: Hier steht „ja“, denn wer gerechtfertigt ist, die Teilsätze einer Konjunktion zu glauben, der ist auch gerechtfertigt, die Konjunktion zu glauben.
4) Zeile 7, linke Spalte: Hier steht „ja“, denn [7] ist die Konjunktion von [5] und [6], und [5] und [6] sind beide wahr.

Als nächstes ist es wichtig, den ersten Satz des Textausschnittes zu verstehen. Darin formuliert Gettier, noch bevor er den Fall mit Smith präsentiert, eine allgemeine Regel.

Gettiers Regel:
Aus (1) „(Subjekt) S ist berechtigt, p zu glauben“,
(2) „p impliziert q“ und
(3) „S versteht, dass p q impliziert“ folgt:
„S ist berechtigt, q zu glauben.“

„p impliziert q“ heißt dasselbe wie „q folgt aus p“: Es kann nicht sein, dass, wenn p wahr ist, q nicht wahr ist.“ Dafür, dass p q impliziert, ist es nicht notwendig, dass p wahr ist.

Nun ein wenig Theorie der Kennzeichnungen, insoweit man sie für den ersten Gettier-Fall braucht.

„Derjenige, der die Bedingung F erfüllt, erfüllt die Bedingung G“

ist genau dann wahr, wenn das Folgende wahr ist:

„Es gibt jemanden, so dass er, und nur er, die Bedingung F erfüllt, und er außerdem die Bedingung G erfüllt.“

Schließlich brauchen wir noch eine allgemeine logische Regel, die existentielle Generalisierung, EG (hier für Personen formuliert).

EG:
Aus „A erfüllt die Bedingung F“ folgt:
„Es gibt jemanden, der die Bedingung F erfüllt.“

Diese Regel ist in der klassischen Prädikatenlogik 1. Stufe tief verankert.

Jetzt sind wir in der Lage, die beiden freien Kästen in Zeile 8 der Tabelle zu füllen.

Zunächst zur linken Spalte. Folgt [8] aus [7]? Ja. Denn aus [7] folgt mit EG:

[8a] „Es gibt jemanden, so dass er, und nur er, den Job kriegt,
und er außerdem 10 Münzen in der Tasche hat.“

[8a] lässt sich mit der Theorie der Kennzeichnungen umformen in [8]. Diese Beobachtung allein rechtfertigt noch nicht den Eintrag „ja“ in der linken Spalte von Zeile 8. Dazu muss [7] obendrein wahr sein: Wenn [7][8] impliziert und [7], wahr ist, dann muss [8] wahr sein. Nun ist aber [7] wahr. Also ist [8] wahr. In den linken Kasten von Zeile 8 gehört ein „ja“. P*2 im Kern-Argument ist also gegeben.

Nun zur rechten Spalte, der Begründung für P*4. Die entscheidende Frage ist: Folgt [8] aus [4]? Ja. Denn auch aus [4] folgt mit EG [8a]. Und [8b] lässt sich mit der Theorie der Kennzeichnungen umformen in [8]. Dafür, dass [8] aus [4] folgt, ist es nicht notwendig, dass [4] wahr ist. Und tatsächlich ist [4] ja auch falsch (linke Spalte in Zeile 4). Aber das ist egal für die folgende Anwendung von Gettiers Regel:

(P**1)Smith ist berechtigt, [4] zu glauben (Zeile 1, links).
(P**2)[4] impliziert [8] (wie soeben gezeigt).
(P**3)Smith versteht, dass [4][8] impliziert (Smith glaubt [8] gerade deshalb, weil er [4] glaubt).
(P*4 (als Konklusion)) Also ist Smith berechtigt, [8] zu glauben.

Auch in den rechten Kasten von Zeile 8 gehört ein „ja“.

Damit erfüllt Smith alle drei Bedingungen des JTB-Definiens, und P1 ist motiviert.

Kommentar

Der modus tollens der Schale ist ein deduktiv gültiger Schluss der klassischen Aussagenlogik. Es fragt sich, ob das Argument stichhaltig ist. Wenn ja, dann widerlegt es die JTB-Definition von „wissen“. Es ist stichhaltig, wenn P1 und P2 wahr sind. Das Argument wird heute überwiegend für stichhaltig gehalten. Dennoch lohnt es sich, zu schauen, ob es denkbar ist, die Prämissen zu bestreiten.

An P2 fällt auf, dass sich Gettier für ihre Wahrheit ganz auf die semantische Intuition zum Wort „wissen“/“know“ verlässt („clearly“). Jemand, der partout an der JTB-Definition festhalten will und P1 zugibt, könnte sich stur stellen und sagen: „So ungewöhnlich es klingen mag: Weil die JTB-Definition von ‚wissen‘ richtig ist, muss man zugeben, dass Smith weiß, dass derjenige, der den Job kriegt, 10 Münzen in der Tasche hat.“ Es ließe sich dann nicht viel mehr tun, als ihm zu entgegnen: „Du hast wirklich bizarre semantische Intuitionen.“

Kann man P1 bestreiten? Der ganze Fall mit Smith ist ja dazu da, sie zu etablieren. Erfüllt Smith auch nur eine der drei JTB-Bedingungen bei genauerem Hinsehen doch nicht, dann ist das Vorhaben, P1 mit dem Fall von Smith zu etablieren, gescheitert. Die schlusstechnischen Zutaten – neben einigen sehr basalen Regeln – sind gut überschaubar: Gettiers Regel, die existentielle Generalisierung und die fundamentale Umformung der Theorie der Kennzeichnungen. Es ist schwer zu sehen, welche dieser Regeln man ablehnen sollte. Auch Gettiers Regel ist sehr plausibel. Aber: Punkt (1) der Anwendung der Gettier-Regel verlässt sich auf das „ja“ in der rechten Spalte von Zeile 1. Und ist denn Smith gerechtfertigt, zu glauben, dass Jones den Job kriegt, nur weil der Chef ihm das vorgeflunkert hat? Sicher hat Smith „strong evidence“. Aber jemand, der P1 bestreitet, könnte so argumentieren: Die Geschichte über Smith zeigt, dass „strong evidence“ nicht hinreicht für die Rechtfertigung einer wahren Meinung im Sinne der JTB-Theorie. Vielmehr war diese Rechtfertigung immer so gemeint, dass sie wahrheitsgarantierend sein sollte.

Formale Detailanalyse

Die Sätze in der Tabelle lassen sich in Formeln der klassischen Prädikatenlogik erster Stufe mit Identität und Kennzeichnungsoperator (iota-Operator) übersetzen. Die oben für die Sätze erläuterten Folgerungsbeziehungen gelten allesamt auch für die Formeln.

Abkürzungsverzeichnis

Kx: x kriegt den Job.
Mx: x hat zehn Münzen in der Tasche.
s: Smith
j: Jones

Formel\ldots ist wahr\ldots wird von Smith geglaubt\ldots ist, was Smith gerechtfertigt ist zu glauben
[1] Kjx(Kxx=j)Kj \land \forall x (Kx \to x=j)neinjaja
[2] ¬Kj\neg Kjjaneinnein
[3] MjMjjajaja
[4] Kjx(Kxx=j)MjKj \land \forall x (Kx \to x=j) \land Mjneinjaja
[5] Ksx(Kxx=s)Ks \land \forall x (Kx \to x=s)janeinnein
[6] MsMsjaneinnein
[7] Ksx(Kxx=s)MsKs \land \forall x (Kx \to x=s) \land Msjaneinnein
[8a] y(Kyx(Kxx=y)My)\exists y (Ky \land \forall x (Kx \to x=y) \land My)jajaja
[8] MZxKxM ZxKxjajaja

Literaturangaben

Platon, Theätet. In: Werke in acht Bänden, griechisch/deutsch. Hg. v. Gunther Eigler (Übersetzung: Friedrich Schleiermacher, mit Korrekturen). Bd. 6. Darmstadt: WBG 1990.