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Die Frage, worin Emotionen essenziell bestehen, ist von hoher Bedeutung für die Philosophie des Geistes. William James‘ Theorie gibt eine bestechend simple Antwort auf diese Frage: Emotionen bestehen aus nichts weiter als Gefühlen von Körperreaktionen, wie zum Beispiel den Gefühlen von steigendem Herzschlag und rauschendem Blut im Fall von Angst. Hier wird James‘ Subtraktions-Argument rekonstruiert, das sein zentrales Argument für seine Körpergefühlstheorie der Emotionen darstellt. Sowohl James‘ Theorie als auch das Substraktions-Argument haben weitreichenden und fortdauernden Einfluss auf die philosophische und die psychologische Forschung zu Emotionen ausgeübt.

Bibliographische Angaben

William James, "What is an Emotion?", Mind 9/34 (1884), 188-205. [PhilPapers] [DOI]

Textstelle

Ich fahre nun damit fort, den entscheidenden Punkt meiner gesamten Theorie hervorzuheben, nämlich diesen: Wenn wir uns eine starke Emotion vorstellen und dann versuchen, aus unserem Bewusstsein davon alle Gefühle ihrer charakteristischen körperlichen Symptome zu abstrahieren, stellen wir fest, dass nichts übrig bleibt, kein "Bewusstseins-Stoff", aus dem die Emotion konstituiert werden könnte, und dass nur ein kalter und neutraler Zustand intellektueller Wahrnehmung übrig bleibt. [...] Was für eine Art von Angstgefühl übrig bliebe, wenn weder das Gefühl eines beschleunigten Herzschlags noch einer flachen Atmung, weder zitternder Lippen noch geschwächter Glieder, weder einer Gänsehaut noch von Eingeweidebewegungen vorhanden wäre, ist völlig unmöglich zu denken. [...][D]ie Emotion ist nichts anderes als das Gefühl dieser [...] körperlichen Auswirkungen.

(nach James, a.a.O., S. 193 f. Übersetzung LD)

Argumentrekonstruktion

James‘ Argumentation lässt sich als ein Schluss von drei Prämissen (1, 2 und 4) auf die zu begründende Konklusion, die seine Körpergefühlstheorie der Emotionen ausdrückt, rekonstruieren.

  1. Wir können uns nicht vorstellen, dass Emotionen ohne Körpergefühle auftreten.
  2. Wenn wir uns nicht vorstellen können, dass F‘s ohne G‘s auftreten, dann ist G notwendig für F.
  3. Körpergefühle sind notwendig für Emotionen. (Zwischenkonklusion, folgt aus 1 und 2)
  4. Wenn Körpergefühle notwendig sind für Emotionen, dann sind Emotionen nichts weiter als Körpergefühle.

    1. Emotionen sind nichts weiter als Körpergefühle (Folgt aus 3 und 4).

Erläuterung

In der angegebenen Form ist James‘ Argument gültig. Die erste Prämisse artikuliert James‘ Gedanken, dass keine Emotion übrigbleibt, sobald wir Körpergefühle – wie die Gefühle des pochenden Herzschlags und des Zitterns, wenn wir uns fürchten – in der Vorstellung abziehen. Die zweite Prämisse basiert auf der Annahme, dass Unvorstellbarkeit von etwas – hier Emotion ohne Körpergefühle – Unmöglichkeit impliziert. Prämisse 3 besagt, dass Körpergefühle notwendig für Emotionen sind, lässt jedoch zu, dass nicht jede Emotion ein bestimmtes Körpergefühl verlangt, sondern verschiedene Arten von Körpergefühlen dieselbe Art von Emotion möglich machen können. Prämisse 4 besagt, dass wir aus der Tatsache, dass Körpergefühle notwendig für Emotionen sind, sogar schließen können, dass Emotionen sich in Körpergefühlen erschöpfen. Das heißt, es wird ausgeschlossen, dass Emotionen noch weitere unabhängige Bestandteile haben könnten. Eine mögliche Begründung für diese Prämisse ist eine Sparsamkeits-Überlegung: Wenn die Annahme weiterer Bestandteile von Emotionen neben Körpergefühlen nicht notwendig ist, vielleicht sollten wir dann ganz darauf verzichten, um eine möglichst einfache Theorie zu gewinnen? Aussage 5 drückt James‘ Theorie der Emotionen aus: Gemäß der Körpergefühlstheorie sind Emotionen einzig und allein Körpergefühle. Ich verstehe dies hier als Token-Identitätsthese, wonach jedes Vorkommnis einer Emotion mit Vorkommnissen einer bestimmten Reihe an Körpergefühlen identisch ist. Es wäre möglich, eine sogar noch stärkere Typen-Identitätsthese zu vertreten, wonach die Eigenschaft, eine bestimmte Emotion zu haben (z.B. Angst), mit der Eigenschaft identisch ist, bestimmte Körpergefühle zu haben (z.B. Zittern und laut pochendes Herz). Eine Herausforderung für die zweite Theorie wäre jedoch, dass dieselbe Art von Emotion (Angst) womöglich nicht immer von denselben Arten von Körpergefühlen begleitet wird.

Kritik

Obgleich James‘ „Subtraktions-Argument“ von vielen PhilosophInnen zustimmend aufgegriffen wurde, bietet es viel Angriffsfläche. Prämisse 1 kann mit Verweis auf Fälle von fast vollständig gelähmten Personen angegriffen werden, deren Vermögen zu Körpergefühlen weitreichend eingeschränkt ist und die dennoch über komplexe emotionale Vermögen verfügen (Cobos et al. 2002). Diese könnten Fälle von Emotionen ohne Körpergefühle darstellen. Zudem haben viele Philosophen berichtet, dass sie sehr wohl fähig seien, sich Emotionen vorzustellen, die nicht von Körpergefühlen begleitet werden (Goldie 2000, S. 52). Nicht nur das, sondern es existiert empirische Evidenz, dass philosophische Laien überwiegend der Auffassung sind, dass ihre Emotionen auch ohne Körpergefühle auftreten könnten (Díaz 2022). Eine abschließende Frage ist, ob Prämisse 1 und folglich James‘ Theorie sich auch auf sogenannte „kalte“ Emotionen wie Bewunderung, Nostalgie oder Neugierde erstreckt, die weniger direkt mit Körpergefühlen verknüpft zu sein scheinen. Die Wahrheit von Prämisse 2 hängt vor allem von der Frage ab, ob Unvorstellbarkeit einen hinreichenden Grund liefert, von Unmöglichkeit auszugehen (Chalmers 2002). Ein Kritiker könnte James vorwerfen, dasjenige zu begehen, was Daniel Dennett „des Philosophen grundlegendste[n] Fehler“ nannte: „ein Versagen der Vorstellungskraft für eine Einsicht in die Notwendigkeit zu halten“ (Dennett 1995, S. 175). Ein Szenario, das James‘ Annahme besonders bedroht, ist die Möglichkeit unbewusster Emotion. Falls es Emotionen geben kann, die nicht bewusst erlebt werden, scheint es plausibel zu sein, dass solche Emotionen existieren könnten, auch wenn wir sie uns nicht vorstellen können, zumindest nicht im Sinne eines imaginativen Vors-Innere-Auge-Rufens. Prämisse 4 verlangt ein Argument dafür, dass keine andere Eigenschaft als weiterer Bestandteil von Emotionen infrage kommt oder sogar notwendig ist, um die Vielfalt der Rollen, die Emotionen in unserem Leben spielen, zu erklären. Ironischerweise spricht James selbst davon, dass „ein kalter und neutraler Zustand intellektueller Wahrnehmung übrig bleibt“, wenn man Körpergefühle von Emotionen abzieht. Daher legt James‘ eigenes Gedankenexperiment nahe, dass Emotionen zusätzlich auch eine intellektuelle, Urteils-ähnliche Komponente aufweisen könnten. Diese Auffassung ist von James weitgehend außer Acht gelassen worden, war jedoch nachfolgend für die Emotionsforschung von hoher Bedeutung (Teroni 2023). Die vorhergehenden Überlegungen sind Herausforderungen für James‘ Theorie, werden allerdings bereits in James‘ ursprünglichem Aufsatz berührt und teils sogar direkt angesprochen.

Literaturangaben

David J. Chalmers, "Does conceivability entail possibility?", in Tamar Gendler und John Hawthorne (Hrsg.), Conceivability and Possibility, 145–200. Oxford 2002. Pilar Cobos, María Sánchez, Carmen Garcı́a, María Nieves Vera, und Jaime Vila, "Revisiting the James versus Cannon debate on emotion: startle and autonomic modulation in patients with spinal cord injuries", in Biological Psychology 61/3 (2002), 251–269. Daniel C. Dennett, Darwin’s Dangerous Idea: Evolution and the Meanings of Life, New York 1995. Rodrigo Díaz, "Emotions and the body. Testing the subtraction argument", in Philosophical Psychology 35/1 (2022), 47–65. Peter Goldie, The Emotions: A Philosophical Exploration. Oxford 2002. Fabrice Teroni, "Evaluative theories in psychology and philosophy of emotion", in Mind & Language, 38/1 (2023), 81–97.

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G. E. Moores Argument der offenen Frage ist eines der bedeutendsten Argumente des 20. Jahrhunderts im Bereich der Ethik. Zahlreiche Philosophen haben über dieses Argument nachgedacht, es auf unterschiedliche Weise rekonstruiert, kritisiert und bewertet. In der folgenden Rekonstruktion wird Moores Gedankengang in der Principia Ethica als ein Argument für die These, dass der Begriff „gut” nicht durch einen beschreibenden Ausdruck definierbar ist, verstanden. In dem Kommentar der Rekonstruktion zeigen sich potentielle Schwächen des Arguments in dieser Form, die unter anderem damit zu tun haben, was wir unter analytischen Definitionen verstehen. Der Kommentar berücksichtigt auch den Einwand eines möglichen Zirkelschlusses. Meistens wird das Argument der offenen Frage als ein Argument für den moralischen Intuitionismus („Non-Naturalism”) verstanden. In der vorgetragenen Rekonstruktion wäre die Konklusion allerdings auch mit dem moralischen Nihilismus verträglich. Insgesamt bietet die folgende Interpretation eine erste Erkundung von Moores Gedanken, die die interpretatorische Flexibilität im Text der Principia Ethica anerkennt.

Bibliographische Angaben

G. E. Moore, Principia Ethica, Cambridge University Press: Cambridge 1903, §13. [Project Gutenberg]

Textstelle

The hypothesis that disagreement about the meaning of good is disagreement with regard to the correct analysis of a given whole, may be most plainly seen to be incorrect by consideration of the fact that, whatever definition may be offered, it may always, be asked, with significance, of the complex so defined, whether it is itself good. To take, for instance, one of the more plausible, because one of the more complicated of such proposed definitions, it may easily be thought, at first sight, that to be good may mean to be that which we desire to desire. Thus if we apply this definition to a particular instance and say “When we think that A is good, we are thinking that A is one of the things which we desire to desire,” our proposition may seem quite plausible. But, if we carry the investigation further, and ask ourselves “Is it good to desire to desire A?” it is apparent, on a little reflection, that this question is itself as intelligible, as the original question, “Is A good?”—that we are, in fact, now asking for exactly the same information about the desire to desire A, for which we formerly asked with regard to A itself. But it is also apparent that the meaning of this second question cannot be correctly analyzed into “Is the desire to desire A one of the things which we desire to desire?”: we have not before our minds anything so complicated as the question “Do we desire to desire to desire to desire A?” Moreover any one can easily convince himself by inspection that the predicate of this proposition—”good”—is positively different from notion of “desiring to desire” which enters into its subject: “That we should desire to desire A is good” is not merely equivalent to “That A should be good is good.” It may indeed be true that what we desire to desire is always good; perhaps, even the converse may be true: but it is very doubtful whether this is the case, and the mere fact that we understand very well what is meant by doubting it, shews clearly that we have two different notions before our mind.

Argumentrekonstruktion

Die zitierte Textstelle kann auf unterschiedliche Weise ausgelegt werden und vorangehende und folgende Textstellen der Principia Ethica können angeführt werden, um verschiedene Interpretationen zu unterstützen. Es scheint aber, dass Moores Grundgedanke sich als Schluss aus zwei Prämissen auf die Konklusion, dass der Ausdruck „gut” nicht anhand eines beschreibenden Ausdrucks X definierbar ist, rekonstruieren lässt.

  1. Wenn der Ausdruck „gut” anhand eines beschreibenden Ausdrucks X (z.B. „etwas, was wir begehren zu begehren”) definierbar wäre, dann wäre die Frage „A ist X, aber ist A auch gut?” nicht offen.
  2. Die Frage „A ist X, aber ist A auch gut?” ist aber offen.

  1. Der Ausdruck „gut” ist nicht anhand eines beschreibenden Ausdrucks definierbar.

Kommentar

Die obige Rekonstruktion von Moores Argumentation folgt dem modus tollens Schema (Wenn p, dann q; es ist aber nicht der Fall, dass q; also ist p nicht der Fall) und ist deswegen gültig. Das bedeutet, dass die Wahrheit der Prämissen die Wahrheit der Konklusion nach sich zieht. Ob das Argument auch schlüssig bzw. stichhaltig ist, hängt davon ab, ob die Prämissen auch wirklich wahr sind, beziehungsweise, ob wir gute Gründe dafür haben anzunehmen, dass die Prämissen wahr sind.

Um die Frage anzugehen, ob Prämisse 1 wahr ist, ist es sinnvoll zunächst einen anderen Fall zu betrachten. Der Ausdruck „Junggeselle” ist anhand des Ausdrucks „unverheirateter Mann” definierbar. Weil dem so ist, wäre die Frage „Alex ist ein unverheirateter Mann, aber ist Alex auch ein Junggeselle?” in gewisser Weise unsinnig. Wenn jemand diese Frage stellen würde, könnten wir mit Recht erwidern, dass diese Person den Ausdruck „Junggeselle” nicht versteht. Mit anderen Worten: Die Frage, ob Alex Junggeselle ist, ist für alle, die den Ausdruck „Junggeselle” verstehen, und die wissen, dass Alex ein unverheirateter Mann ist, abgeschlossen. Etwas allgemeiner ausgedrückt: Wenn X und Y dasselbe bedeuten, so könnte man vermuten, müssen alle Fragen der Art „A ist X, aber ist A auch Y?” abgeschlossen sein. Aus diesem Grund scheint es zunächst plausibel anzunehmen, dass Prämisse 1 wahr ist.

Um nun Prämisse 2 anzugehen, ist es sinnvoll eines von Moores Beispielen anzuführen. Es scheint so zu sein, dass eine Frage wie „Genuss ist etwas, was wir begehren zu begehren, aber ist Genuss auch gut?” nicht in obigem Sinne unsinnig ist. Wenn jemand solch eine Frage stellen würde, könnten wir nicht einfach erwidern, dass die Person den Ausdruck „gut” nicht versteht. Es erscheint außerdem zunächst nicht unplausibel, dass jede Frage, die dem Schema „A ist X, aber ist A auch gut?” folgt, in diesem Sinne offen ist. Leser*innen können selbst verschiedene Möglichkeiten ausprobieren das Schema auszufüllen. Es muss aber angemerkt werden, dass Ausdrücke, die nicht beschreibend, sondern wertend sind, eventuell solch eine Frage schließen können. Die Frage „A ist weder schlecht noch neutral, aber ist A auch gut?” scheint tatsächlich im obigen Sinne unsinnig zu sein. Aber wir haben zunächst gute Gründe anzunehmen, dass Prämisse 2 hinsichtlich beschreibender Ausdrücke wahr ist.

Bei genauerer Betrachtung zeigen sich allerdings erhebliche Schwächen in der hier präsentierten Rekonstruktion des Arguments der offenen Frage. Dies heißt nicht zwangsläufig, dass Moores Gedankengang fehlerhaft ist. Die angeführte Textstelle lässt viel Interpretationsspielraum zu und die angeführte Rekonstruktion sollte daher nur als eine erste Annäherung, welche durch die folgenden kritischen Überlegungen ergänzt werden kann, betrachtet werden.

Bezüglich Prämisse 1 ist zunächst anzumerken, dass es selbstverständlich Fälle gibt, in denen X und Y zwar in gewissem Sinne dasselbe bedeuten, die Frage „A ist X, aber ist A auch Y?” aber offenbleibt. Dies ist zum Beispiel immer der Fall, wenn X und Y, wie Frege sagen würde, bloß dasselbe bedeuten, aber nicht denselben Sinn haben. Nehmen wir als Beispiel die Ausdrücke „Batman” und „Bruce Wayne”. Superheldenfans wissen natürlich, dass Batman Bruce Wayne ist. Insofern, dass „Batman” und „Bruce Wayne” sich auf dieselbe Person beziehen, lässt sich dann sagen, dass diese beiden Ausdrücke dasselbe bedeuten. Allerdings haben die Ausdrücke „Batman” und „Bruce Wayne” einen unterschiedlichen Sinn. Dies zeigt sich genau dadurch, dass für jemanden, der zwar den Ausdruck „Batman” versteht, der aber nicht weiß, dass Batman Bruce Wayne ist, die Frage „Der dunkle Ritter ist Batman, aber ist der dunkle Ritter Bruce Wayne?” nicht abgeschlossen ist. Wir könnten zu jener Person nicht sagen, dass sie den Ausdruck „Bruce Wayne” nicht versteht.

Es ließe sich zweierlei erwidern. Zunächst können wir darauf hinweisen, dass Moore in dem obigen Text von analytischen Definitionen zu sprechen scheint. Analytische Definitionen sind, grob gesagt, begriffliche Wahrheiten. „Junggesellen sind unverheiratete Männer” ist analytisch. Das vermeintliche Gegenbeispiel „Batman ist Bruce Wayne” scheint dagegen nicht analytisch zu sein. Dies ließe sich unter anderem daran zeigen, dass wir nicht allein durch Nachdenken über den Begriff „Batman” herausfinden könnten, dass Batman Bruce Wayne ist. Wenn dem so wäre, hätte Batman es nicht nötig sich zu maskieren.

Nun ist es aber so, dass selbst analytische Wahrheiten nicht zwangsläufig offensichtlich sein müssen. Ist es nicht so, dass Philosophen, besonders in der analytischen Tradition, bestrebt sind, analytische Wahrheiten zu enthüllen, die nicht offensichtlich sind? Wären alle analytischen Wahrheiten so offensichtlich wie „Junggesellen sind unverheiratete Männer” hätten wir Philosophen wenig zu tun. Es könnte also durchaus sein, dass „gut” anhand von einem beschreibenden Ausdruck wie „etwas, was wir begehren zu begehren” analytisch definiert werden kann, dass die Antwort auf die Frage „Genuss ist etwas, was wir begehren zu begehren, aber ist Genuss auch gut?” aber trotzdem nicht offensichtlich ist und in diesem Sinne offenbleibt.

Bezüglich Prämisse 2 ist anzumerken, dass Kritiker des Arguments der offenen Frage hier einen Zirkelbeweis oder eine petitio principii anmahnen könnten. Mit anderen Worten, es könnte angemahnt werden, dass wir nur Grund haben anzunehmen, dass die Frage „A ist X, aber ist A auch gut?” offen ist, wenn wir bereits an die Konklusion glauben. Kritiker könnten zumindest bemängeln, dass die obige Rekonstruktion von Moores Gedankengang ungenügend in dem Sinne ist, dass eine von der Konklusion unabhängige Begründung von Prämisse 2 nicht direkt ersichtlich ist.

Abschließend sollte erwähnt werden, dass die Konklusion der obigen Rekonstruktion verschiedene mögliche Implikationen hat. G. E. Moore selbst verstand seinen Gedankengang als eine Argumentation dafür, dass die Qualität des Gutseins zwar eine reale, aber keine natürliche Qualität ist. Zumindest in der obigen Konstruktion ist die Konklusion des Arguments der offenen Frage aber durchaus auch mit anderen Implikationen verträglich. Es wäre zum Beispiel auch denkbar, dass der Ausdruck „gut” nicht anhand eines beschreibenden Ausdrucks definierbar ist, weil die Qualität des Gutseins nicht real ist. Mit anderen Worten, die obige Rekonstruktion des Arguments der offenen Frage kann auch als hinführendes Argument für den moralischen Nihilismus verstanden werden.

Literaturangaben

Frege, G. (1892). Über Sinn und Bedeutung. In M. Beaney (Ed.), The Frege Reader. Blackwell.

Smith, M. (1995). The Moral Problem. Blackwell.

Van Roojen, M. S. (2015). Metaethics: A Contemporary Introduction (First edition). Routledge, Taylor & Francis Group.

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Das Nichtidentitäts-Problem ist ein zentrales moralphilosophisches Problem, das in jüngster Zeit insbesondere aufgrund seiner Implikationen mit Blick auf klima- und populationsethische Fragestellungen intensiv diskutiert worden ist. Im Kern dreht sich dieses Problem um unsere moralischen Verpflichtungen gegenüber Individuen, die durch unsere Handlungen überhaupt erst in Existenz kommen und deren Existenz unausweichlich mit einem gewissen Maß an Leid verbunden ist. Die entscheidende Frage ist dabei, wie die Verursachung dieses Leids moralisch zu bewerten ist, gegeben dass es niemanden gibt, dem dieses Leid hätte erspart werden können. Die hier vorgestellte informelle Rekonstruktion stellt eine der frühesten und einflussreichsten Formulierungen dieses Problems vor.

Bibliographische Angaben

Derek Parfit, Reasons and Persons, Oxford 1986, S. 357-361. [Oxford Academic] [DOI]

Textstelle

Parfit entwickelt das Nichtidentitäts-Problem anhand des folgenden Gedankenexperiments:

Stellen wir uns ein […] 14jähriges Mädchen vor. Dieses Mädchen entscheidet sich dafür, ein Kind zu bekommen. Weil sie noch so jung ist, wird sie diesem Kind keinen guten Start ins Leben ermöglichen können. […] Wenn das Mädchen einige Jahre warten würde, würde sie ein anderes Kind bekommen, dem sie einen besseren Start ins Leben ermöglichen könnte. […] Nehmen wir an, wir hätten versucht, das Mädchen davon zu überzeugen, noch einige Jahre zu warten. [Aber wir] sind mit diesem Versuch gescheitert. Das Mädchen bekommt also, wie befürchtet, im Alter von 14 Jahren ein Kind und gibt ihm einen schlechten Start ins Leben. […] Glauben wir, dass es besser gewesen wäre, wenn das Mädchen gewartet hätte […]? Ich persönlich […] habe diese Überzeugung, genauso wie die meisten anderen Leute, die über diesen Fall nachdenken. Aber wir können nicht […] sagen, dass die Entscheidung des Mädchens schlecht für ihr Kind war[,][…] weil in der bestehenden Alternative eben ein anderes Kind geboren worden wäre. Ich werde dieses Problem im Folgenden als Nichtidentitäts-Problem bezeichnen.

(nach Parfit, a.a.O., S. 358 f. Übersetzung DB)

Argumentrekonstruktion

Parfits Argumentation lässt sich als ein Schluss von vier Prämissen (1, 2, 3 und 5) auf die zu begründende Konklusion, die die Nichtidentitäts-Problematik zum Ausdruck bringt, rekonstruieren.

  1. Es wäre besser gewesen, wenn das Mädchen erst später ein Kind bekommen hätte.
  2. Das Mädchen hätte ein anderes Kind bekommen, wenn sie erst später ein Kind bekommen hätte.
  3. Wenn das Mädchen ein anderes Kind bekommen hätte, dann wäre es ihrem Kind nicht besser ergangen.
  4. Es wäre ihrem Kind nicht besser ergangen, wenn das Mädchen erst später ein Kind bekommen hätte. (Zwischenkonklusion, folgt aus 2, 3)
  5. Wenn es ihrem Kind nicht besser ergangen wäre, wenn das Mädchen erst später ein Kind bekommen hätte, dann wäre es nicht besser für ihr Kind gewesen, wenn sie erst später ein Kind bekommen hätte.

  1. Es wäre besser gewesen, wenn das Mädchen erst später ein Kind bekommen hätte und es wäre nicht besser für ihr Kind gewesen, wenn das Mädchen erst später ein Kind bekommen hätte. (Folgt aus 1, 4 und 5)

Kommentar

Die Argumentation von Parfit ist gültig. Sollte sie darüber hinaus auch schlüssig sein, würde sie etablieren, dass eine Entscheidung aus moralischer Sicht besser sein kann, ohne dass sie besser für irgendeine Person ist - schließlich basiert die in Prämisse 1 ausgedrückte moralische Bewertung der Entscheidung des Mädchens allein auf dem antizipierten Leid ihres Kindes (die Idee ist also nicht, dass es besser für das Mädchen oder irgendwelche Angehörigen gewesen wäre, wenn sie sich anders entschieden hätte). Dementsprechend legt Parfits Argumentation den Schluss nahe, dass eine Entscheidung moralisch schlecht sein kann, ohne dass sie schlecht für jemanden ist. Diese Konklusion erscheint nun deshalb problematisch, weil sie der vortheoretisch intuitiven Annahme zuwiderläuft, dass eine spezifische Entscheidung nur dann moralisch falsch sein kann, wenn es jemanden gibt, dem durch diese Entscheidung geschadet wird. In der moralphilosophischen Debatte findet diese Annahme im Rahmen sogenannter personenbezogener (engl. person-affecting) Moraltheorien ihren Ausdruck, die davon ausgehen, dass eine Handlung nur dann moralisch schlecht sein kann, wenn sie schlecht für jemanden ist. Vor dem Hintergrund einer solchen Sichtweise würde das obige Argument zeigen, dass sich aus den Prämissen (1, 2, 3 und 5) ein Widerspruch ergibt und somit mindestens eine Prämisse aufgegeben werden muss.

Eine mögliche Reaktion besteht nun darin, die Konklusion zu akzeptieren - und mithin also dafür zu argumentieren, dass hier lediglich ein scheinbarer Widerspruch zum Ausdruck kommt. Es muss also gezeigt werden, dass die Annahme, dass es moralisch besser gewesen wäre, wenn das Mädchen erst später ein Kind bekommen hätte, völlig vereinbar mit der Annahme ist, dass es nicht besser für ihr Kind gewesen wäre, wenn sie erst später ein Kind bekommen hätte. Eine offensichtliche Möglichkeit besteht hier in der Etablierung einer apersonalen Sichtweise auf Moral, beispielsweise in Form des klassischen Utilitarismus. Der klassische Utilitarismus macht den moralischen Status einer Handlung nämlich lediglich davon abhängig, wie viel Glück und Leid durch diese Handlung verursacht wird – und zwar unabhängig davon, wer dieses Glück oder Leid empfindet (für eine solche Reaktion, siehe etwa Singer 2011, 107–119).

Eine andere Reaktion besteht darin, zu akzeptieren, dass die Konklusion einen Widerspruch ausdrückt. In diesem Fall muss eine der Prämissen aufgegeben werden. So haben etwa einige Autor:innen dafür argumentiert, dass einer Person auch dann durch eine Handlung geschadet werden kann (siehe bspw. Shiffrin 1999, 120–135) bzw. dass eine Handlung auch dann schlecht für eine Person sein kann (siehe bspw. Harman 2009, 139), wenn es dieser Person im Falle einer Unterlassung dieser Handlung überhaupt nicht besser ergangen wäre. Eine solche Sichtweise würde es ermöglichen, Prämisse 5 zurückzuweisen.

Andere Autor:innen haben sich auf Prämisse 1 konzentriert und dafür argumentiert, dass die Entscheidung des Mädchens nicht moralisch problematisch ist. Eine strittige Frage in diesem Zusammenhang ist, ob eine solche Bewertung der Entscheidung des Mädchens nur in Fällen gilt, in denen das Leben ihres Kindes zwar suboptimal, aber immer noch lebenswert ist, oder auch in Fällen, in denen dieses Leben derart beeinträchtigt ist, dass es nicht mehr als lebenswert zu bewerten ist. Während sich einige Autor:innen auf die erste, schwächere These beschränken (siehe etwa Boonin 2008), haben einige auch die zweite, stärkere These vertreten (siehe etwa Heyd 2009).

Obwohl die durch Parfits Argumentation etablierte Problematik auf den ersten Blick einigermaßen abstrakt wirken mag, hat sie dennoch unmittelbare Konsequenzen für unsere moralische Praxis. Ein ebenso offensichtlicher wie prominenter Anwendungskontext ist dabei die Debatte um die moralischen Implikationen des Klimawandels: In einem Szenario, in dem es der Menschheit noch gelingt, rechtzeitig klimaschädliche Emissionen hinreichend stark zu reduzieren, werden – aufgrund veränderten Mobilitäts- und Konsumverhaltens – andere Paare zu anderen Zeitpunkten Nachkommen zeugen als in einem Szenario, in dem klimaschädliche Emissionen nicht hinreichend reduziert werden. Das hat zur Konsequenz, dass in beiden Szenarien zukünftig jeweils verschiedene Populationen von Menschen existieren werden. Das wiederum bedeutet, dass es den zukünftigen Personen, die im Falle des schlechten Szenarios unter den Folgen des Klimawandels zu leiden haben, überhaupt nicht besser ergangen wäre, wenn ihre Vorfahren rechtzeitig klimaschädliche Emissionen reduziert hätten. Eine Beantwortung der Frage, ob und warum der Klimawandel überhaupt problematisch ist, hängt also auch von einer Bewertung und Lösung des Nichtidentitäts-Problems ab (für eine Diskussion dieser klimaethischen Implikationen des Nichtidentitäts-Problems siehe etwa Meyer 2018).

Literaturangaben

David Boonin, „How to Solve the Non-Identity Problem“, in Public Affairs Quarterly 22/2 (2008), 129–159.

Elizabeth Harman, „Harming as Causing Harm,“ in Melinda Roberts und David Wasserman (Hrsg.), Harming Future Persons. Ethics, Genetics and the Nonidentity Problem, 137-154. Dordrecht 2009.

David Heyd, „The Intractability of the Nonidentity Problem“, in Melinda Roberts und David Wasserman (Hrsg.), Harming Future Persons. Ethics, Genetics and the Nonidentity Problem, 3-25. Dordrecht 2009.

Kirsten Meyer, Was schulden wir zukünftigen Generationen? Herausforderung Zukunftsethik, Ditzingen 2018.

Seana Shiffrin, „Wrongful Life, Procreative Responsibility, and the Significance of Harm“, in Legal Theory 5 (1999), 117–48.

Peter Singer, Practical Ethics, 3rd ed., Cambridge 2011.

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Epikur (fl. 300 v.Chr.) argumentierte dafür, dass Gott nicht fürsorglich ist, daher, dass es Übel in der Welt gibt und Gott sie beseitigen könnte. Das ist uns durch Laktanz (fl. 300 n.Chr.) überliefert worden. Epikur begründete somit eine Lösung des Theodizee-Problems, wie es einen perfekten Gott geben kann, wo es doch Leid in der Welt gibt. Epikurs Argument wird im Folgenden informell mit zusätzlichen Zwischenkonklusionen rekonstruiert. Dem Kommentar folgt eine aussagenlogische Formalisierung. Obwohl Laktanz das Argument bereits klar und einfach wiedergegeben hat, ist es vorteilhaft, das Argument detailliert zu rekonstruieren. Einer der Vorteile ist, dass sich verschiedene Lösungen des Theodizee-Problems aufs rekonstruierte Argument beziehen lassen.

Bibliographische Angaben

Lactantius, De ira dei 13,20–22.

Textstelle

Laktanz schreibt (a. a. O., 13,20–22; meine Übersetzung):

LateinDeutsch
[1] quod si haec ratio vera est, quam Stoici nullo modo videre potuerunt, dissolvitur etiam illud argumentum Epicuri.[1] Wenn dieser Grund wahr ist, den die Stoiker auf keine Weise sehen konnten, dann ist auch folgendes Argument Epikurs entkräftet.
[2] „deus“ inquit „aut vult tollere mala et non potest aut potest et non vult aut neque vult neque potest aut et vult et potest.[2] „Gott“, sagt er, „will entweder die Übel beseitigen und kann es nicht, oder er kann es und will nicht, oder weder will noch kann er es, oder sowohl will als auch kann er es.
[3] si vult et non potest, inbellicus est, quod in deum non cadit;[3] Wenn er es will und nicht kann, dann ist er schwach. Das trifft auf Gott nicht zu.
[4] si potest et non vult, invidus, quod aeque alienum est a deo;[4] Wenn er es kann und nicht will, ist er nicht fürsorglich. Auch das liegt Gott fern.
[5] si neque vult neque potest, et invidus et inbellicus est ideoque nec deus;[5] Wenn er es weder will noch kann, ist er sowohl nicht fürsorglich als auch schwach und daher nicht Gott.
[6] si et vult et potest, quod solum deo convenit, unde ergo sunt mala aut cur illa non tollit? “[6] Wenn er es sowohl will als auch kann – das allein passt zu Gott –, woher kommen dann bitte die Übel bzw. weshalb beseitigt er sie nicht? “
[7] scio plerosque philosophorum qui providentiam defendunt, hoc argumento perturbari solere et invitos paene adigi ut deum nihil curare fateantur, quod maxime quaerit Epicurus.[7] Ich weiß, dass die meisten der Philosophen, die Gottes Fürsorge verteidigen, von diesem Argument für gewöhnlich ganz durcheinandergebracht werden und sich wider Willen fast dazu drängen lassen zuzugeben, dass Gott nicht fürsorglich ist – worauf Epikur vor allem abzielt.

Argumentrekonstruktion

Das bloße Argument, das Epikur vorzubringen scheint, rekonstruiere ich mit sieben Prämissen und der Konklusion, dass Gott nicht fürsorglich ist. (Die rechte Spalte verweist auf die jeweiligen Sätze in der oben zitierten Textstelle.)

P1:Entweder will Gott die Übel beseitigen, aber kann nicht, oder er kann es, aber will nicht, oder er will es nicht und kann es nicht, oder er will und kann es.[2]
P2:Wenn Gott die Übel beseitigen will, aber nicht kann, dann ist er schwach.[3]
P3:Es ist nicht so, dass Gott schwach ist.[3]
P4:Wenn Gott die Übel beseitigen kann, aber nicht will, dann ist er nicht fürsorglich.[4]
P5:Wenn Gott die Übel nicht beseitigen will und nicht kann, dann ist er sowohl nicht fürsorglich als auch schwach.[5]
P6:Wenn Gott die Übel beseitigen will und kann, dann gibt es keine Übel.[6, impl]
P7:Es ist nicht so, dass es keine Übel gibt.[6, impl]
K:Gott ist nicht fürsorglich. (AL: P1–P7)[7]

Mittels zusätzlichen Zwischenkonklusionen und der Angabe von Schlussregeln will ich nun leichter erkennen lassen, dass die Konklusion deduktiv gültig aus den Prämissen folgt. Für einen besseren Flow schiebe ich die vierte Prämisse ans Ende.

P1:Entweder will Gott die Übel beseitigen, aber kann nicht, oder er kann es, aber will nicht, oder er will es nicht und kann es nicht, oder er will und kann es.[2]
P2:Wenn Gott die Übel beseitigen will, aber nicht kann, dann ist er schwach.[3]
P3:Es ist nicht so, dass Gott schwach ist.[3]
Z1:Es ist nicht so, dass Gott die Übel beseitigen will, aber nicht kann. (m.t.: P2, P3)[impl]
Z2:Entweder kann Gott die Übel beseitigen, aber will nicht, oder er will es nicht und kann es nicht, oder er will und kann es. (DS: P1, Z1)[impl]
Z3:Es ist nicht so, dass Gott sowohl nicht fürsorglich ist als auch schwach. (AL: P3)[impl]
P5:Wenn Gott die Übel nicht beseitigen will und nicht kann, dann ist er sowohl nicht fürsorglich als auch schwach.[5]
Z4:Es ist nicht so, dass Gott die Übel nicht beseitigen will und nicht kann. (m.t.: Z3, P5)[impl]
Z5:Entweder kann Gott die Übel beseitigen, aber will nicht, oder er will und kann es. (DS: Z2, Z4)[impl]
P6:Wenn Gott die Übel beseitigen will und kann, dann gibt es keine Übel.[6, impl]
P7:Es ist nicht so, dass es keine Übel gibt.[6, impl]
Z6:Es ist nicht so, dass Gott die Übel beseitigen will und kann. (m.t.: P6, P7)[impl]
Z7:Gott kann die Übel beseitigen, aber will nicht. (DS: Z5, Z6)[impl]
P4:Wenn Gott die Übel beseitigen kann, aber nicht will, dann ist er nicht fürsorglich.[4]
K:Gott ist nicht fürsorglich. (m.p.: Z7, P4)[7]

Kommentar

Was ist dieser Grund, auf den Laktanz zu Beginn unserer Textstelle zurückweist? Zuvor (a. a. O., 12,5–13,19) ist Laktanz der Frage nachgegangen, weshalb Gott die Welt geschaffen habe. Er befürwortet die Auffassung der Stoiker, dass Gott die Welt für uns Menschen geschaffen hat. Immerhin lasse sich feststellen, dass alles in der Welt uns irgendwie nützt. Dann diskutiert er den Einwand der Akademiker, dass es Übel in der Welt gibt, die uns schaden. Er verwirft die Entgegnung der Stoiker, wir würden den Nutzen dieser Übel nur noch nicht kennen, es würde ihn aber geben. Stattdessen sei so zu begründen: Es gibt Übel in der Welt, weil Gott die Menschen wie ein Abbild von sich und somit mit Vernunft begabt geschaffen hat; doch es kann niemand mit Vernunft begabt sein, ohne dass es Güter und Übel in der Welt gibt, die er mittels seiner Vernunft unterscheiden kann. Das ist der Grund, von dem Laktanz sagt, er sei den Stoikern entgangen.

Die erste bemerkenswerte Schwierigkeit daran, Epikurs1 Argument zu rekonstruieren, mag darin bestehen, dessen Konklusion zu identifizieren. Denn das Zitat, auf das Laktanz mit „folgendes Argument Epikurs“ [1] vorverweist und mit „von diesem Argument“ [7] zurückweist, scheint keine Konklusion zu nennen, für die Epikur argumentiert. Vielmehr deutet sich im Zitat ein Oktalemma an: acht Aussagen, von denen jede für sich betrachtet wahr zu sein scheint, die aber nicht zusammen wahr sein können. Denn neben unseren Prämissen P1–P7 findet sich die Aussage, dass Gott fürsorglich ist [4; vgl. 5 & 6]. Das ist aber das kontradiktorische Gegenteil unser Konklusion K, die deduktiv gültig aus den Prämissen folgt. Wir müssen über das Zitat hinauslesen, um von Laktanz zu erfahren, dass Epikur dafür argumentiert hat, dass Gott nicht fürsorglich ist [7].

Ist die Konklusion erst einmal identifiziert, lässt sich Epikurs Argument leichter rekonstruieren. Die Aussage, dass Gott fürsorglich ist [4; vgl. 5 & 6], dürfen wir wohlwollend als Prämisse ausschließen. (Epikur wird ja nichts Widersprüchliches behaupten wollen.) Während sich die Prämissen P1–P5 ohne nennenswerte Schwierigkeiten rekonstruieren lassen [2–5], wirft das Ende des Zitats ein Problem auf [6]. Hier wird nämlich eine Frage formuliert, jedoch keine Behauptung. Nun versuchen wir aber, wohlwollend ein gültiges Argument zu rekonstruieren; und indem wir die Prämissen P6 und P7 ergänzen, resultiert ein gültiges Argument. Somit sind wir darin gerechtfertigt, die Frage als rhetorische zu interpretieren: Indirekt wird zweierlei behauptet, nämlich die Prämissen P6 und P7.

Eine letzte Schwierigkeit, die wert ist erwähnt zu werden, betrifft meine vereinheitlichende Übersetzung von „invidus esse“ [4 & 5], „nihil curare“ und „providentia“ [7] durch „nicht fürsorglich sein“ bzw. „Fürsorge“. Auf dem Spektrum: jemandem Schlechtes zu wollen (links), weder Gutes noch Schlechtes zu wollen (Mitte) und nur Gutes zu wollen (rechts), ist „invidus esse“ eher dem linken Spektrum zuzuordnen, „nihil curare“ der Mitte und „providentia“ dem rechten Spektrum. Deshalb könnte man die Übersetzung der ersten beiden Phrasen durch „nicht fürsorglich sein“ (links oder Mitte) für unangemessen halten. Ich habe mir diese Übersetzungsfreiheit jedoch zugunsten einer wohlwollenden Rekonstruktion genommen. Nicht nur legt sich Epikur mit P4, P5 und K auf schwächere Thesen fest. Erst auf diese Weise resultiert ein gültiges Argument. Zudem wäre es nicht akkurat, Epikur die Konklusion zu unterstellen, dass Gott missgünstig ist. Immerhin war Epikur der Ansicht, dass es seelenruhige Götter gibt, die sich weder ums Weltgeschehen kümmern noch sich daran beteiligen.2

Die Rekonstruktion mittels Zwischenkonklusionen kommt hauptsächlich mit der Angabe der Schlussregeln modus ponens (m.p.), modus tollens (m.t.) und dem disjunktiven modus tollendo ponens (DS) aus. Die einzelnen Schlüsse will ich hier nicht länger erläutern. Allein: Ich sollte den Kommentar „AL“ an der Zwischenkonklusion Z3 erklären. Dahinter steckt die aussagenlogisch gültige Schlussregel: Daraus, dass es nicht so ist, dass A, darf darauf geschlossen werden, dass es nicht so ist, dass B und A. (Ist ein Konjunkt bereits falsch, dann auch die ganze Konjunktion.) Setzen wir für „A“ ein „Gott ist schwach“ und für „B“ „Gott ist nicht fürsorglich“, erhalten wir die relevante Instanz: Daraus, dass es nicht so ist, dass Gott schwach ist (P3), darf darauf geschlossen werden, dass es nicht so ist, dass Gott sowohl nicht fürsorglich ist als auch schwach (Z3). Dass nur aussagenlogisch gültige Schlussregeln benötigt werden, zeigt, dass das Argument aussagenlogisch gültig ist.

Es lassen sich verschiedene Lösungen des Theodizee-Problems auf unser rekonstruiertes Argument beziehen. Ich will einige beispielhaft nennen. Atheisten, die behaupten, dass es keinen Gott gibt, werden etwas an den Prämissen P1–P6 und der Konklusion auszusetzen haben. So werden sie in der Regel behaupten, der Ausdruck „Gott“ sei, wie er hier gebraucht wird, ein leerer singulärer Term (ein singulärer Term, der nichts bezeichnet). Je nach dem, welche freie Logik sie heranziehen, werden sie manche oder alle der gen. Aussagen für falsch oder zumindest für nicht wahr halten. Hans Jonas würde die dritte Prämisse angreifen, denn: Gott ist nicht allmächtig. Stoiker würden die vierte Prämisse ablehnen: Die Übel haben einen uns (noch) verborgenen Nutzen. Auch Alvin Plantingas Free-Will-Defence würde dort seinen Hebel ansetzen. Leibniz würde gegen die fünfte Prämisse einwenden: Gott hat – allgütig wie er ist, konnte und wollte er nicht anders – bereits die beste aller möglichen Welten geschaffen. Und Spinoza würde zwar Epikur zustimmen, dass Gott nicht fürsorglich ist, aber das Argument für nicht beweiskräftig halten, denn contra P5: Notwendigerweise ist alles, wie es ist, kraft der Macht Gottes.

Kommen wir zu guter Letzt zurück zu Laktanz. Wie entkräftet er nun eigentlich Epikurs Argument? Furchtlos blickt er auf die vierte Prämisse und schreibt (a. a. O., 13,22–23; meine Übersetzung): „Da wir aber den Grund erkannt haben, entkräften wir dieses furchterregende Argument mit Leichtigkeit. Gott kann nämlich tun, was auch immer er will, und weder ist Schwäche in ihm noch ist er ohne Fürsorge. Also kann er die Übel beseitigen, will es aber nicht. Darum ist es trotzdem nicht so, dass er nicht fürsorglich ist. Denn er beseitigt die Übel deshalb nicht, weil er zugleich, wie ich gezeigt habe, Vernunft verliehen hat und mehr des Guten und der Annehmlichkeit in der Vernunft liegt als Unannehmlichkeiten in den Übeln“.

Aussagenlogische Formalisierung

Ich gebrauche eine übliche aussagenlogische Sprache. Atomare Formeln seien: „p“, „q“, „r“, „s“ und „t“. Einfache Aussagen, die im Argument vorkommen, werden gemäß dieser Legende durch eine atomare Formel formalisiert.

  • p: Gott will die Übel beseitigen
  • s: Gott ist schwach
  • q: Gott kann die Übel beseitigen
  • t: Es gibt Übel
  • r: Gott ist fürsorglich

Auf dieser Grundlage formalisiere ich das Argument so.

F.P1:(p¬q)((q¬p)((¬p¬q)(pq)))(p \land \lnot q) \lor ((q \land \lnot p) \lor ((\lnot p \land \lnot q) \lor (p \land q)))
F.P2:(p¬q)s(p \land \lnot q) \rightarrow s
F.P3:¬s\lnot s
F.P4:(q¬p)¬r(q \land \lnot p) \lor \lnot r
F.P5:(¬p¬q)(¬rs)(\lnot p \land \lnot q) \lor (\lnot r \land s)
F.P6:(pq)¬t(p \land q) \lor \lnot t
F.P7:¬¬t\lnot \lnot t
F.K:¬r\lnot r (AL: P1–P7)

Mittels Wahrheitstabelle, Tableau oder Herleitung lässt sich nun beweisen, dass F.K aus der Menge der formalisierten Prämissen F.P1–F.P7 aussagenlogisch folgt. Aber das spare ich uns. Die Wahrheitstabelle hat 32 Zeilen, das Tableau passt auch kaum auf eine Seite und eine Herleitung im Kalkül des natürlichen Schließens ist so nah an der Rekonstruktion inkl. Zwischenkonklusionen, dass sie nichts wirklich Neues bringt.

Literaturangaben

Glei, Reinhold: Et invidus et inbellicus. Das angebliche Epikurfragment bei Laktanz, De ira Dei 13,20–21, in: Vigiliae Christianae 42,1 (1988) 47–58.

Jonas, Hans: Der Gottesbeweis nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1992.

Lactantius: De ira Dei liber. Vom Zorne Gottes, eingeleitet, herausgegeben, übertragen und erläutert von H. Kraft und A. Wlosok, Darmstadt: WBG, 1971.

Leibniz, Gottfried Wilhelm: Essais de Theodicée sur la bonté de Dieu, la liberté de l’homme et l’origine du mal, Amsterdam 1710.

Plantinga, Alvin: God, Freedom, and Evil, Grand Rapids/Michigan: Eerdmans, 1977.

Spinoza, Baruch de: Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt. Neu übersetzt, herausgegeben, mit einer Einleitung versehen von Wolfgang Bartuschat, Hamburg: Meiner, 2015.


  1. Epikurs Urheberschaft ist umstritten. S. Glei 1988.
  2. Für Belege s. Glei 1988.

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In seinem Dialog Theätet lässt Platon gegen Ende seinen Sokrates den folgenden Vorschlag eines Definiens (das heißt: eines definierenden Ausdrucks) für das Definiendum „Wissen“ diskutieren: „gerechtfertigte wahre Meinung“. Obwohl Sokrates den Vorschlag ganz am Ende des Dialogs verwirft (!), hat man ihn lange für ein im Prinzip gelungenes Definiens für „Wissen“ gehalten und daher eine so genannte JTB-Definition des Wissens vertreten („JTB“ = „justified true belief“). Das hat sich geändert durch einen drei Seiten langen Aufsatz, den der (ansonsten nicht weiter prominente) Philosoph Edmund Gettier 1963 veröffentlicht hat (übrigens: Der Name „Gettier“ wird amerikanisch ausgesprochen und auf der ersten Silbe betont). Gettier beschrieb in diesem Aufsatz einige Fälle, die er als Gegenbeispiele zur JTB-Definition ansah. Damit begann eine neue Epoche in der Erkenntnistheorie. Im Folgenden wird der erste der Gettier-Fälle rekonstruiert.

Bibliographische Angaben

Edmund Gettier: “Is Justified True Belief Knowledge?”, Analysis 23/6 (1963), 121-123. [PhilPapers] [DOI]

Textstelle

Die Beschreibung des ersten Gettier-Fall lautet im Original (Absätze, Auslassungen und Vokabelhinweise in eckigen Klammern: Niko Strobach):

[ \ldots F]or any proposition P, if S is justified in believing P, and P entails Q, and S deduces Q from P [ \ldots ], then S is justified in believing Q. [ \ldots ]
Suppose that Smith and Jones have applied for a certain job. And suppose that Smith has strong evidence [=starke Indizien] for the following conjunctive proposition [=Konjunktion]:

    (d) Jones is the man who will get the job, and Jones has ten coins in his pocket.

Smith's evidence for (d) might be that the president of the company assured him that Jones would in the end be selected, and that he, Smith, had counted the coins in Jones's pocket ten minutes ago. Proposition (d) entails [=impliziert]:

    (e) The man who will get the job has ten coins in his pocket.

Let us suppose that Smith sees the entailment from (d) to (e), and accepts (e) on the grounds of (d), for which he has strong evidence. In this case, Smith is clearly justified in believing that (e) is true.
But imagine, further, that unknown to Smith, he himself, not Jones, will get the job. And, also, unknown to Smith, he himself has ten coins in his pocket.
Proposition (e) is then true, though proposition (d), from which Smith inferred (e) is false. In our example, then, all of the following are true:
(i) (e) is true,
(ii) Smith believes that (e) is true,
(iii) Smith is justified in believing that (e) is true.
But it is equally clear that Smith does not know that (e) is true.”

Argumentrekonstruktion

I) Ein komplexes Argument mit Kennzeichnungen

Gettiers Text ist so klar strukturiert, dass man sich vielleicht fragt: Wozu da noch eine Rekonstruktion? Tatsächlich ist das Argument komplexer, als es auf den ersten Blick aussieht. Um es im Kern zu verstehen, braucht man nämlich etwas Theorie der Kennzeichnungen (auch „definite Beschreibungen“ genannt, zuerst 1905 entwickelt von Bertrand Russell). Die Gültigkeit des Arguments mit dem ersten Gettier-Fall hängt entscheidend davon ab, dass Kennzeichnungen darin vorkommen. Eine Kennzeichnung hat typischerweise die Form

„derjenige, der die Bedingung F erfüllt.“

Der Kern von Gettiers Argument ist das Beispiel mit Smith und Jones. Man sollte aber nicht seine äußere Schale übersehen.

II) Die Schale

Die Schale besteht in einem modus tollens-Argument, wie es typisch ist für die Widerlegung eines Definitionsvorschlags. Ein modus tollens hat die folgende Form: Wenn p, dann q; nun aber nicht q; also nicht p.

P1 Wenn die JTB-Definition für „Wissen“ angemessen ist, dann weiß Smith, dass der Satz „Derjenige, der den Job kriegt, hat 10 Münzen in der Tasche“ wahr ist.
P2 (Aber) Smith weiß nicht, dass der Satz „Derjenige, der den Job kriegt, hat 10 Münzen in der Tasche“ wahr ist.
Also ist die JTB-Definition von „Wissen“ nicht angemessen. (modus tollens aus P1, P2)

Wie ist P1 motiviert? Smith erfüllt alle drei Klauseln des JTB-Definiens für „Wissen“. Wie ist P2 motiviert? Durch semantische Intuition zum Wort „Wissen“ angesichts der Geschichte über Smith („Der hat doch kein Wissen!“). Ist P2 wahr, so gibt es wenigstens einen Fall, der das JTB-Definiens erfüllt, aber intuitiv kein Fall von Wissen ist: den von Smith. Das JTB-Definiens ist somit für das Definiendum (den zu definierenden Ausdruck) „Wissen“ zu weit.

III) Der Kern

Der Kern des Arguments soll P1 etablieren, indem gezeigt wird: Smith erfüllt alle drei Bedingungen des JTB-Definiens für „Wissen“. Die Struktur dieses Kern-Arguments, das P1 aus dem Schalen-Argument begründet, lässt sich dementsprechend so fassen:

P*1Wenn die JTB-Definition für „Wissen“ angemessen ist, dann gilt: S weiß genau dann, dass p, wenn gilt: p ist wahr und S glaubt, dass p wahr ist, und S ist berechtigt, zu glauben, dass p.
P*2 „Derjenige, der den Job kriegt, hat 10 Münzen in der Tasche“ (= p) ist wahr.
P*3Smith glaubt, dass „Derjenige, der den Job kriegt, hat 10 Münzen in der Tasche“ wahr ist.
P*4Smith ist berechtigt, zu glauben, dass „Derjenige, der den Job kriegt, hat 10 Münzen in der Tasche“ wahr ist.
P1 (als Konklusion)Wenn die JTB-Definition für „Wissen“ angemessen ist, dann weiß Smith, dass der Satz „Derjenige, der den Job kriegt, hat 10 Münzen in der Tasche“ wahr ist.

Die erste Prämisse dieses Arguments ist bereits erläutert worden. Entscheidend sind also die drei übrigen Prämissen, in denen es jeweils um den Satz „Derjenige, der den Job kriegt, hat 10 Münzen in der Tasche“ geht, Gettiers Satz (e). In Wahrheit jedoch sind an dieser Stelle eine ganze Reihe von verschiedenen Sätzen im Spiel. Und deren Beziehungen müssen wir genauer ins Auge fassen, um zu verstehen, wie P*2, P*3 und P*4 jeweils begründet sind.

Im Folgenden soll zunächst in einer Tabelle der Status dieser Reihe von Sätzen im Hinblick auf drei Parameter festgehalten werden, wie die von Gettier erzählte Geschichte ihn vorgibt.

Satz\ldots ist wahr\ldots wird von Smith geglaubt\ldots ist, was Smith gerechtfertigt ist zu glauben
[1] Jones, und nur er, kriegt den Job.neinjaja
[2] Jones kriegt den Job nicht.janeinnein
[3] Jones hat zehn Münzen in der Tasche.jajaja
[4] Jones, und nur er, kriegt den Job, und er hat zehn Münzen in der Tasche.neinjaja
[5] Smith, und nur er, kriegt den Job.janeinnein
[6] Smith hat zehn Münzen in der Tasche.janeinnein
[7] Smith, und nur er, kriegt den Job, und er hat zehn Münzen in der Tasche.janeinnein
[8] Derjenige, der den Job kriegt, hat zehn Münzen in der Tasche.ja

[4] ist Gettiers Satz (d), [8] sein Satz (e).

Die entscheidende Frage ist: Muss in den beiden freien Kästen in Zeile 8 auch „ja“ stehen? Wenn das so ist, dann erfüllt Smith alle drei Klauseln des JTB-Definiens. Das „ja“ in der mittleren Spalte sichert bereits P*3 in der obigen Rekonstruktion des Kern-Arguments. Wenn links „ja“ steht, ist auch P*2 wahr, wenn rechts auch „ja“ steht, ebenso P*4.

Machen wir uns zunächst noch einige Einzelheiten zur Tabelle klar:

1) Zeile 1, rechte Spalte: Dies ist Gettiers Meinung. Vgl. dazu unten den Kommentar.
2) Zeile 4, mittlere Spalte: Hier steht „ja“, denn [4] ist die Konjunktion von [1] und [3], und wer die Teilsätze einer Konjunktion glaubt (wie Smith laut Z.1 und Z.3, mittlere Spalte), der glaubt auch die Konjunktion.
3) Zeile 4, rechte Spalte: Hier steht „ja“, denn wer gerechtfertigt ist, die Teilsätze einer Konjunktion zu glauben, der ist auch gerechtfertigt, die Konjunktion zu glauben.
4) Zeile 7, linke Spalte: Hier steht „ja“, denn [7] ist die Konjunktion von [5] und [6], und [5] und [6] sind beide wahr.

Als nächstes ist es wichtig, den ersten Satz des Textausschnittes zu verstehen. Darin formuliert Gettier, noch bevor er den Fall mit Smith präsentiert, eine allgemeine Regel.

Gettiers Regel:
Aus (1) „(Subjekt) S ist berechtigt, p zu glauben“,
(2) „p impliziert q“ und
(3) „S versteht, dass p q impliziert“ folgt:
„S ist berechtigt, q zu glauben.“

„p impliziert q“ heißt dasselbe wie „q folgt aus p“: Es kann nicht sein, dass, wenn p wahr ist, q nicht wahr ist.“ Dafür, dass p q impliziert, ist es nicht notwendig, dass p wahr ist.

Nun ein wenig Theorie der Kennzeichnungen, insoweit man sie für den ersten Gettier-Fall braucht.

„Derjenige, der die Bedingung F erfüllt, erfüllt die Bedingung G“

ist genau dann wahr, wenn das Folgende wahr ist:

„Es gibt jemanden, so dass er, und nur er, die Bedingung F erfüllt, und er außerdem die Bedingung G erfüllt.“

Schließlich brauchen wir noch eine allgemeine logische Regel, die existentielle Generalisierung, EG (hier für Personen formuliert).

EG:
Aus „A erfüllt die Bedingung F“ folgt:
„Es gibt jemanden, der die Bedingung F erfüllt.“

Diese Regel ist in der klassischen Prädikatenlogik 1. Stufe tief verankert.

Jetzt sind wir in der Lage, die beiden freien Kästen in Zeile 8 der Tabelle zu füllen.

Zunächst zur linken Spalte. Folgt [8] aus [7]? Ja. Denn aus [7] folgt mit EG:

[8a] „Es gibt jemanden, so dass er, und nur er, den Job kriegt,
und er außerdem 10 Münzen in der Tasche hat.“

[8a] lässt sich mit der Theorie der Kennzeichnungen umformen in [8]. Diese Beobachtung allein rechtfertigt noch nicht den Eintrag „ja“ in der linken Spalte von Zeile 8. Dazu muss [7] obendrein wahr sein: Wenn [7][8] impliziert und [7], wahr ist, dann muss [8] wahr sein. Nun ist aber [7] wahr. Also ist [8] wahr. In den linken Kasten von Zeile 8 gehört ein „ja“. P*2 im Kern-Argument ist also gegeben.

Nun zur rechten Spalte, der Begründung für P*4. Die entscheidende Frage ist: Folgt [8] aus [4]? Ja. Denn auch aus [4] folgt mit EG [8a]. Und [8b] lässt sich mit der Theorie der Kennzeichnungen umformen in [8]. Dafür, dass [8] aus [4] folgt, ist es nicht notwendig, dass [4] wahr ist. Und tatsächlich ist [4] ja auch falsch (linke Spalte in Zeile 4). Aber das ist egal für die folgende Anwendung von Gettiers Regel:

(P**1)Smith ist berechtigt, [4] zu glauben (Zeile 1, links).
(P**2)[4] impliziert [8] (wie soeben gezeigt).
(P**3)Smith versteht, dass [4][8] impliziert (Smith glaubt [8] gerade deshalb, weil er [4] glaubt).
(P*4 (als Konklusion)) Also ist Smith berechtigt, [8] zu glauben.

Auch in den rechten Kasten von Zeile 8 gehört ein „ja“.

Damit erfüllt Smith alle drei Bedingungen des JTB-Definiens, und P1 ist motiviert.

Kommentar

Der modus tollens der Schale ist ein deduktiv gültiger Schluss der klassischen Aussagenlogik. Es fragt sich, ob das Argument stichhaltig ist. Wenn ja, dann widerlegt es die JTB-Definition von „wissen“. Es ist stichhaltig, wenn P1 und P2 wahr sind. Das Argument wird heute überwiegend für stichhaltig gehalten. Dennoch lohnt es sich, zu schauen, ob es denkbar ist, die Prämissen zu bestreiten.

An P2 fällt auf, dass sich Gettier für ihre Wahrheit ganz auf die semantische Intuition zum Wort „wissen“/“know“ verlässt („clearly“). Jemand, der partout an der JTB-Definition festhalten will und P1 zugibt, könnte sich stur stellen und sagen: „So ungewöhnlich es klingen mag: Weil die JTB-Definition von ‚wissen‘ richtig ist, muss man zugeben, dass Smith weiß, dass derjenige, der den Job kriegt, 10 Münzen in der Tasche hat.“ Es ließe sich dann nicht viel mehr tun, als ihm zu entgegnen: „Du hast wirklich bizarre semantische Intuitionen.“

Kann man P1 bestreiten? Der ganze Fall mit Smith ist ja dazu da, sie zu etablieren. Erfüllt Smith auch nur eine der drei JTB-Bedingungen bei genauerem Hinsehen doch nicht, dann ist das Vorhaben, P1 mit dem Fall von Smith zu etablieren, gescheitert. Die schlusstechnischen Zutaten – neben einigen sehr basalen Regeln – sind gut überschaubar: Gettiers Regel, die existentielle Generalisierung und die fundamentale Umformung der Theorie der Kennzeichnungen. Es ist schwer zu sehen, welche dieser Regeln man ablehnen sollte. Auch Gettiers Regel ist sehr plausibel. Aber: Punkt (1) der Anwendung der Gettier-Regel verlässt sich auf das „ja“ in der rechten Spalte von Zeile 1. Und ist denn Smith gerechtfertigt, zu glauben, dass Jones den Job kriegt, nur weil der Chef ihm das vorgeflunkert hat? Sicher hat Smith „strong evidence“. Aber jemand, der P1 bestreitet, könnte so argumentieren: Die Geschichte über Smith zeigt, dass „strong evidence“ nicht hinreicht für die Rechtfertigung einer wahren Meinung im Sinne der JTB-Theorie. Vielmehr war diese Rechtfertigung immer so gemeint, dass sie wahrheitsgarantierend sein sollte.

Formale Detailanalyse

Die Sätze in der Tabelle lassen sich in Formeln der klassischen Prädikatenlogik erster Stufe mit Identität und Kennzeichnungsoperator (iota-Operator) übersetzen. Die oben für die Sätze erläuterten Folgerungsbeziehungen gelten allesamt auch für die Formeln.

Abkürzungsverzeichnis

Kx: x kriegt den Job.
Mx: x hat zehn Münzen in der Tasche.
s: Smith
j: Jones

Formel\ldots ist wahr\ldots wird von Smith geglaubt\ldots ist, was Smith gerechtfertigt ist zu glauben
[1] Kjx(Kxx=j)Kj \land \forall x (Kx \to x=j)neinjaja
[2] ¬Kj\neg Kjjaneinnein
[3] MjMjjajaja
[4] Kjx(Kxx=j)MjKj \land \forall x (Kx \to x=j) \land Mjneinjaja
[5] Ksx(Kxx=s)Ks \land \forall x (Kx \to x=s)janeinnein
[6] MsMsjaneinnein
[7] Ksx(Kxx=s)MsKs \land \forall x (Kx \to x=s) \land Msjaneinnein
[8a] y(Kyx(Kxx=y)My)\exists y (Ky \land \forall x (Kx \to x=y) \land My)jajaja
[8] MZxKxM ZxKxjajaja

Literaturangaben

Platon, Theätet. In: Werke in acht Bänden, griechisch/deutsch. Hg. v. Gunther Eigler (Übersetzung: Friedrich Schleiermacher, mit Korrekturen). Bd. 6. Darmstadt: WBG 1990.

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Rudolf Carnaps philosophisches Programm des logischen Empirismus sieht in empirischen Daten die Grundlage der Wissenschaft und des wissenschaftlichen Sinns. Carnaps Text zu den sogenannten „Scheinproblemen“ kommt daher die Funktion zu, eine Abgrenzung vorzunehmen zwischen Problemen in der Philosophie, die als sinnvoll, und solchen, die als sinnlos erachtet werden. Ein besonders einschlägiger Textabschnitt ist hierbei der, in welchem Carnap die wissenschaftliche Sinnlosigkeit mittels eines Gedankenexperiments mit dem Fehlen eines Erfahrungsbezugs in Verbindung bringt. Durch eine formale Rekonstruktion des darin enthaltenen Arguments lässt sich besser verstehen, ob und inwiefern Carnaps Programm Erfolg darin hat, eine seiner grundlegenden Thesen ausreichend logisch zu untermauern.

Bibliographische Angaben

Rudolf Carnap, Scheinprobleme in der Philosophie, S. 60—64, 1928. [PhilPapers]

Textstelle

Die Textstelle erstreckt sich über mehrere Seiten und wurde für den Zweck dieser Rekonstruktion stark gekürzt.

§9. Die Thesen des Realismus und des Idealismus. [ \ldots ]

Hier soll nicht die Frage gestellt werden, welche der beiden Thesen recht hat. [ \ldots ] Es soll vielmehr die tieferliegende Frage aufgeworfen werden, ob die genannten Thesen überhaupt einen wissenschaftlichen Sinn haben, ob sie überhaupt einen Inhalt haben, zu dem die Wissenschaft dann zustimmend oder ablehnend Stellung nehmen könnte. [ \ldots ]

Nach unseren Überlegungen bedeutet die Frage nach dem Sinn: sprechen die Thesen einen Sachverhalt aus (gleichviel, ob einen bestehenden oder nicht bestehenden), oder sind es vielleicht bloße Scheinaussagen, entstanden aus der unausführbaren Absicht, begleitende Gegenstandsvorstellungen in Aussagen auszudrücken, als seien es Sachverhaltsvorstellungen. Wir werden finden, daß dies letztere der Fall ist, daß also die Thesen keinen Inhalt haben, gar keine Aussagen sind; damit fällt dann jene Frage der Gültigkeit der Thesen weg. Die Wissenschaft kann in der Realitätsfrage weder bejahend noch verneinend Stellung nehmen, da die Frage keinen Sinn hat. [ \ldots ]

Wenn zwei Geographen, ein Realist und ein Idealist, ausgeschickt werden, um die Frage zu entscheiden, ob ein an einer bestimmten Stelle in Afrika vermuteter Berg nur legendär sei oder wirklich existiere, so kommen sie beide zu dem gleichen (positiven oder negativen) Ergebnis. Denn für den Begriff der Wirklichkeit in diesem Sinne -- wir wollen ihn als »empirische Wirklichkeit« bezeichnen, -- liegen in Physik und Geographie bestimmte Kriterien vor, die unabhängig von dem philosophischen Standpunkt des Forschers eindeutig zu einem bestimmten Ergebnis führen. [ \ldots ] In allen empirischen Fragen herrscht Einigkeit. Die Wahl des philosophischen Standpunktes hat also keinen inhaltlichen Einfluß auf die Naturwissenschaft; [ \ldots ]

Der Gegensatz zwischen den beiden Forschern tritt erst auf, wenn sie nicht mehr als Geographen sprechen, sondern als Philosophen, wenn sie die übereinstimmend gefundenen, empirischen Ergebnisse philosophisch interpretieren. [ \ldots ]

Die Divergenz zwischen den beiden Forschern liegt nicht auf empirischem Gebiete; denn im Empirischen sind ja beide völlig einig. Die beiden Thesen, die hier einander widerstreiten, liegen jenseits der Erfahrung und sind daher nicht sachhaltig; [ \ldots ]

Da uns nun die Sachhaltigkeit als das Kriterium der sinnvollen Aussagen gilt, so kann weder die These des Realismus von der Realität der Außenwelt, noch die des Idealismus von der Nichtrealität der Außenwelt als wissenschaftlich sinnvoll anerkannt werden. Das besagt nicht: die beiden Thesen seien falsch; sondern: sie haben überhaupt keinen Sinn, in Bezug auf den die Frage, ob wahr oder falsch, gestellt werden könnte.

Argumentrekonstruktion

Carnaps Argument beginnt mit der Gegenüberstellung zweier metaphysischer Ansichten. Auf der einen Seite steht der Realismus, der die Existenz der Außenwelt annimmt. Auf der anderen steht der Idealismus, der diese Existenz bestreitet. Carnap möchte zeigen, dass die Frage nach der Richtigkeit einer dieser Ansichten ein Scheinproblem ist — und somit kein echtes Problem. Er argumentiert für diese Ansicht, indem er durch ein Gedankenexperiment zeigt, dass die genannten Theorien jenseits der Erfahrung liegen und daher als wissenschaftlich sinnlos gelten müssen.

Zwar bezieht sich Carnap auf den Realismus und den Idealismus, sowie auf das spezielle Beispiel eines Berges, jedoch kann man das Argument darüber hinaus verallgemeinern auf alle philosophischen Theorien, die sich auf die Beschaffenheit der Außenwelt jenseits des empirisch Wahrnehmbaren beziehen.

Da Carnaps Argument nicht bereits in einer logisch gültigen Form gegeben ist, muss man die einzelnen Thesen für die Formalisierung erst aus seinen Ausführungen rekonstruieren. Dies werde ich im Folgenden tun.

Einige der Aussagen in der Textstelle haben lediglich die Funktion, bestimmte Begriffe zu definieren, wenn auch nur implizit. So werden in den folgenden drei Textausschnitten die Begriffe der wissenschaftlichen Sinnhaftigkeit und der Sachhaltigkeit zueinander in Verbindung gebracht, sowie zu der Idee, dass eine Theorie jenseits der Erfahrung liegt:

„Nach unseren Überlegungen bedeutet die Frage nach dem Sinn: sprechen die Thesen einen Sachverhalt aus [?]

„Die Divergenz zwischen den beiden Forschern liegt nicht auf empirischem Gebiete; denn im Empirischen sind ja beide völlig einig. Die beiden Thesen, die hier einander widerstreiten, liegen jenseits der Erfahrung und sind daher nicht sachhaltig;“

„Da uns nun die Sachhaltigkeit als das Kriterium der sinnvollen Aussagen gilt, so kann weder die These des Realismus von der Realität der Außenwelt, noch die des Idealismus von der Nichtrealität der Außenwelt als wissenschaftlich sinnvoll anerkannt werden.“

Zusammengefasst kann man die in diesen Textausschnitten enthaltenen Gedanken folgendermaßen darstellen, wobei die Theorie, um die es geht, mit T abgekürzt wird:

P1: Wenn T nicht sachhaltig ist, dann ist T nicht wissenschaftlich sinnvoll.

P2: Wenn T jenseits der Erfahrung liegt, dann ist T nicht sachhaltig.

Aus diesen beiden Sätzen folgt also, dass eine Theorie, die jenseits der Erfahrung liegt, nicht wissenschaftlich sinnvoll ist.

Nun muss man natürlich wissen, was es bedeutet, dass eine Theorie oder ihre Thesen jenseits der Erfahrung liegen. Im Beispiel der zwei Geographen kann man das daran erkennen, dass es keine empirischen Thesen gibt, die den Realismus und den Idealismus unterscheiden würden, weil sie etwa nur mit der einen, nicht aber mit der anderen Theorie kompatibel wären. Wenn eine Theorie sich also nicht von ihrem Gegenteil durch empirische Thesen unterscheiden lässt, dann sagt sie nichts über empirische Thesen aus und liegt daher jenseits der Erfahrung.

Es ergibt sich allgemein:

P3: Wenn T keine Aussagen über empirische Thesen macht, dann liegt T jenseits der Erfahrung.

P4: Wenn es keine empirische These gibt, sodass sich T diesbezüglich von nicht-T unterscheidet, dann macht T keine Aussagen über empirische Thesen.

Dass sich der Realismus und der Idealismus tatsächlich nicht durch empirische Thesen unterscheiden lassen, folgt intuitiv aus dem Gedankenexperiment:

P5: Es gibt keine empirische These, sodass sich der Realismus diesbezüglich vom Idealismus unterscheidet.

Da hier angenommen wird, dass der Realismus und der Idealismus gegensätzliche Theorien sind (dazu mehr unten im Kommentar), gilt dadurch auch, dass der Realismus sich von seinem Gegenteil nicht durch empirische Thesen unterscheiden lässt. Somit kann zunächst aus P4 und P5 mittels Modus Ponens eine Zwischenkonklusion Z1 gezogen werden:

Z1: Der Realismus macht keine Aussagen über empirische Thesen.

Daraus folgt wiederum mittels Modus Ponens und P3:

Z2: Der Realismus liegt jenseits der Erfahrung.

Weiterhin kann man daraus mit P2 mittels Modus Ponens herleiten:

Z3: Der Realismus ist nicht sachhaltig.

Auf die gleiche Weise folgt daraus und aus P1:

K: Der Realismus ist nicht wissenschaftlich sinnvoll.

Die vollständige Struktur des Arguments ist hier noch einmal zusammengefasst:

P1Wenn T nicht sachhaltig ist, dann ist T nicht wissenschaftlich sinnvoll.Prämisse (Definition)
P2Wenn T jenseits der Erfahrung liegt, dann ist T nicht sachhaltig.Prämisse (Definition)
P3Wenn T keine Aussagen über empirische Thesen macht, dann liegt T jenseits der Erfahrung.Prämisse (Definition)
P4Wenn es keine empirische These gibt, sodass sich T diesbezüglich von nicht-T unterscheidet, dann macht T keine Aussagen über empirische Thesen.Prämisse (Definition)
P5Es gibt keine empirische These, sodass sich der Realismus diesbezüglich vom Idealismus unterscheidet.Prämisse (Gedankenexperiment)
Z1Der Realismus macht keine Aussagen über empirische Thesen.P4, P5, Modus Ponens
Z2Der Realismus liegt jenseits der Erfahrung.P3, Z1, Modus Ponens
Z3Der Realismus ist nicht sachhaltig.P2, Z2, Modus Ponens
KDer Realismus ist nicht wissenschaftlich sinnvoll.P1, Z3, Modus Ponens

Man kann für die wissenschaftliche Sinnlosigkeit des Idealismus auf die gleiche Weise argumentieren, indem man einfach Realismus und Idealismus füreinander substituiert.

Kommentar

Die formale Struktur und etwaige implizite Annahmen des Arguments sind teilweise nicht eindeutig aus dem Text erkennbar, sodass bei der Formalisierung manches dazu erschlossen werden musste. Dennoch kann man Carnaps gültiges Argument aus seinen Ausführungen rekonstruieren.

Damit Carnaps Argument gültig ist, muss es eine logische Struktur aufweisen, in welcher die Wahrheit der Prämissen durch logische Schlussregeln unweigerlich zur Wahrheit der Konklusion führt. Dass dies der Fall ist, wurde bereits gezeigt, denn ab Z1 folgen alle Sätze mittels Modus Ponens aus den vorherigen Sätzen. Da es sich hierbei um eine logische Schlussregel handelt, ist das Argument gültig.

Die Prämissen fungieren hier eher als Definitionen der Begriffe „wissenschaftlich sinnvoll", „sachhaltig", und „jenseits der Erfahrung", sowie der Eigenschaft einer Theorie, keine Aussagen über empirische Thesen zu machen. In diesen Definitionen ist jeweils der Antezedenz der einen Prämisse der Konsequent einer anderen, sodass wie bei einer Kettenreaktion der Konsequent von P1 folgt, sobald der Antezedenz von P4, nämlich P5, festgestellt wird.

Die Prämisse P5 wird durch das Gedankenexperiment motiviert und ist daher vielleicht keine bloße Annahme, sondern eher ein Ergebnis aus der intuitiven Betrachtung des Beispiels. Es wirkt einfach richtig, zu sagen, dass die beiden Geographen sich bezüglich aller empirischen Thesen einig sind. Da sie darüber hinaus den Realismus und den Idealismus vertreten, stehen ihre Ansichten stellvertretend für diese Theorien.

P4 kann dadurch motiviert werden, dass eine Theorie und ihr Gegenteil eine These nur dann gleich bewerten, wenn sie sich beide diesbezüglich enthalten. Ansonsten würde die eine Theorie die These positiv, die andere sie negativ bewerten. Zumindest würde die Aussage der einen Theorie von der gegenteiligen Theorie ins Gegenteil verkehrt werden. Wenn eine Theorie und ihr Gegenteil sich also bezüglich einer These einig sind, dann machen beide bezüglich dieser These keine Aussage. Und wenn sie sich bezüglich aller empirischen Thesen einig sind, dann machen sie über empirische Thesen keine Aussagen.

Um P4 und P5 zu verbinden, muss der Realismus für T und der Idealismus für nicht-T eingesetzt werden. Dafür wird angenommen, dass der Realismus und der Idealismus exakt gegensätzlich sind und somit den Möglichkeitsraum vollständig ausschöpfen. Carnap schreibt in der Einführung zu dieser Textstelle, die gekürzt wurde, dass es sich beim Idealismus um die „Gegenbehauptungen“ zum Realismus handele. Somit kann man diese Annahme für diese Rekonstruktion von Carnaps Argument rechtfertigen, da er die Begriffe „Realismus" und „Idealismus" eben so definiert, dass sie gegensätzlich sind.

Formale Detailanalyse

Das Argument wird hier in Prädikatenlogik formalisiert.

  • rr: Der Realismus.
  • ii: Der Idealismus.
  • TT: Die Menge der Theorien.
  • EE: Die Menge der empirischen Thesen.
  • g(x)g(x): Eine Funktion, die das Gegenteil der Theorie x ausgibt.
  • W(x)W(x): x ist eine wissenschaftlich sinnvolle Theorie.
  • S(x)S(x): x ist eine sachhaltige Theorie.
  • J(x)J(x): x liegt jenseits der Erfahrung.
  • A(x)A(x): x macht Aussagen über empirische Thesen.
  • U(x,y,z)U(x,y,z): x und y unterscheiden sich in ihrer Bewertung von z.
P1xT(¬S(x)¬W(x))\forall x\in T(\neg S(x)\to\neg W(x))Prämisse
P2xT(J(x)¬S(x))\forall x\in T(J(x)\to\neg S(x))Prämisse
P3xT(¬A(x)J(x))\forall x\in T(\neg A(x) \to J(x))Prämisse
P4xT(¬yE(U(x,g(x),y))¬A(x))\forall x\in T(\neg\exists y\in E (U(x,g(x),y)) \to \neg A(x))Prämisse
P5¬yE(U(r,i,y))\neg\exists y\in E (U(r,i,y))Prämisse
Z1¬A(r)\neg A(r)P4, P5, Modus Ponens
Z2J(r)J(r)P3, Z1, Modus Ponens
Z3¬S(r)\neg S(r)P2, Z2, Modus Ponens
K¬W(r)\neg W(r)P1, Z3, Modus Ponens

Die Schreibweise xT\forall x\in T ist vielleicht etwas ungenau, da das Elementsymbol nicht Teil des Alphabets der Prädikatenlogik ist. Eine genauere Schreibweise kann dadurch erreicht werden, dass jeweils durch ein Prädikat T(x) oder E(x) geprüft wird, ob das Objekt den richtigen Typ hat. Da dies aber etwas unübersichtlich geworden wäre, wurde hier die ungenaue Schreibweise quasi als Abkürzung verwendet.

Literaturangaben

Carnap, Rudolf. Scheinprobleme in der Philosophie: das Fremdpsychische und der Realismusstreit, Suhrkamp 1966.

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Die Philosophen der älteren Stoa hatten eine Aussagenlogik, die der heutigen klassischen Aussagenlogik recht ähnlich ist (einführend: Strobach 2019, 44-49). Sie orientierten sich beim Argumentieren an dieser Logik, was zu Argumenten von großer Klarheit führte. Von einem der frühesten Stoiker, Kleanthes (ca. 300 v. Chr.), ist eine bemerkenswerte Argumentation für eine Konklusion überliefert, welche die Stoiker selbst als These vertraten: Die Seele ist materiell. Die Argumentation ist bis zum heutigen Tag systematisch bedeutend: Kleanthes war offenbar der Ansicht, dass jeder, der seine These bestreitet, mit einem Problem der psychophysischen Interaktion konfrontiert ist, das unlösbar ist.

Bibliographische Angaben

Die Argumentation des Kleanthes ist auf Griechisch ediert als Fragment 518 in Band 1 der Fragmentsammlung Stoicorum Veterum Fragmenta (SVF) und als Fragment 45C in Long/Sedley (1987). Hier verwendete Übersetzung: Niko Strobach. Auf eine Wiedergabe des griechischen Originals wird verzichtet.

Textstelle

Der Text lautet:

Weder leidet Unkörperliches mit einem Körper mit,
noch ein Körper mit Unkörperlichem.
Die Seele leidet aber mit dem kranken oder zerschnittenen Körper mit;
ebenso der Körper mit der Seele:
wenn sie [= die Seele] sich schämt, wird er [= der Körper] rot;
wenn sie sich fürchtet, blass.
Ein Körper also ist die Seele.

Argumentrekonstruktion

Die sehr dicht formulierte Argumentation besteht aus mehreren parallel gebauten Argumenten. Im Folgenden sollen zwei Rekonstruktionen präsentiert werden. Die erste Rekonstruktion sieht zwei parallele Argumente. Die zweite Rekonstruktion, die die erste verfeinert, sieht sogar vier parallele Argumente. Wo im Griechischen „mitleiden“ („sympaschein“) steht, ist das weiter zu fassen, als es das deutsche Wort „leiden“ nahelegt. Entscheidend ist der kausale Einfluss. „A leidet mit B mit“ ist zu verstehen als „B affiziert A“.

Rekonstruktion 1

Kleanthes unterscheidet zwei Fälle.

Fall 1: Der Körper affiziert die Seele.

Fall 2: Die Seele affiziert den Körper.

Mit jedem der beiden Fälle wird ein Argument durchgeführt. Beide Male hat die erste Prämisse, P1, die Form „Weder p noch q“.

P1: Weder affiziert Körperliches Unkörperliches
noch affiziert Unkörperliches Körperliches.

„Weder p noch q“ ist aussagenlogisch äquivalent mit „Nicht p; und nicht q“ (De Morgan’sches Gesetz). Das ergibt eine erste Zwischenkonklusion:

Z1: Es ist nicht der Fall, dass Körperliches Unkörperliches affiziert;
und es ist nicht der Fall, dass Unkörperliches Körperliches affiziert. (aus P1)

Für Fall 1 ist entscheidend, dass aus Z1 aussagenlogisch folgt:

Z2-Fall_1: Es ist nicht der Fall, dass Körperliches Unkörperliches affiziert. (aus Z1)

Für Fall_2 ist entscheidend, dass aus Z1 aussagenlogisch folgt:

Z2-Fall_2: Es ist nicht der Fall, dass Unkörperliches Körperliches affiziert. (aus Z1)

Ab dieser Stelle wird es etwas knifflig. Man möchte am liebsten als nächstes sofort eine Prämisse P2-Fall_1 und eine Prämisse P2-Fall_2 ins Spiel bringen:

P2-Fall_1: Der Körper affiziert die Seele. (= „Die Seele leidet mit dem Körper mit.“)

P2-Fall_2: Die Seele affiziert den Körper. (= „Der Körper leidet mit der Seele mit.“)

Aber von der Seele war bisher noch gar nicht die Rede. Der Anschluss fehlt. Er muss durch zwei zu ergänzende Brückenprämissen, PB-1 und PB-2, hergestellt werden. Hier bieten sich an:

PB-Fall_1:Wenn es nicht der Fall ist, dass Körperliches Unkörperliches affiziert, dann gilt:
Wenn die Seele kein Körper ist, dann affiziert der Körper nicht die Seele.
PB-Fall_2:Wenn es nicht der Fall ist, dass Unkörperliches Körperliches affiziert, dann gilt:
Wenn die Seele kein Körper ist, dann affiziert die Seele nicht den Körper.

„Die Seele ist kein Körper“ ist dabei eine abkürzende Redeweise für „Es ist nicht der Fall, dass die Seele ein Körper ist“. Mit modus ponens (Wenn p, dann q, nun aber p; also q) folgt aus Z2-Fall_1 und PB-Fall_1:

Z3-Fall_1: Wenn die Seele kein Körper ist, dann affiziert der Körper nicht die Seele.

Und aus Z2-Fall_2 und PB-Fall_2 folgt mit modus ponens:

Z3-Fall_2: Wenn die Seele kein Körper ist, dann affiziert die Seele nicht den Körper.

Nun können wir mit P2-Fall_1 und P2-Fall_2 arbeiten. Warum? Ein modus tollens hat die Form:

Wenn p, dann q; nun aber nicht q; also nicht p.

Mit Einsetzung erhält man die folgende Variante des modus tollens:

Wenn nicht r, dann nicht s; nun aber nicht nicht s; also nicht nicht r.

Mit dem Gesetz der doppelten Negation, das die Stoiker akzeptierten, kürzt sich das zu:

Wenn nicht r, dann nicht s; nun aber s; also r.

Für r lässt sich lesen „Die Seele ist ein Körper“. Für Fall 1 lesen wir s als „Die Seele affiziert den Körper“. Mit der gerade beschriebenen Variante des modus tollens kann man deshalb aus Z3-Fall_1 und P2-Fall_1 schließen auf die Konklusion:

K(onklusion): Die Seele ist ein Körper.

Für Fall 2 lesen wir s als „Der Körper affiziert die Seele.“ Für Fall 2 ergibt sich mit der modus tollens-Variante die Konklusion aus Z3-Fall_2 und P2-Fall_2.

Wo sind die schönen Beispiele? Wo wird zum Beispiel das Wort „zerschnitten“ aus dem Text berücksichtigt? Wo geht es ums Erröten? Ein deduktiv gültiges Argument, das Stichhaltigkeit beansprucht, besteht oft nicht nur aus den Prämissen und der Konklusion, sondern enthält auch Text, der die Wahrheit der Prämissen motivieren soll. Denn ein Argument ist ja gerade dann stichhaltig, wenn es deduktiv gültig ist und alle seine Prämissen wahr sind. Man kann es bei Rekonstruktion 1 belassen und sagen: Die Beispiele motivieren die Wahrheit der jeweils zweiten Prämisse. Sie sind sozusagen die Muskeln am Argument-Skelett. P2-Fall_1 wird durch zwei Punkte motiviert:

M1-Fall_1: Wenn der Körper krank ist, leidet die Seele.

M2-Fall_1: Wenn der Körper verletzt ist, leidet die Seele.

Und P2-Fall_2 wird ebenfalls durch zwei Punkte motiviert:

M1-Fall_2: Wenn die Seele sich schämt, errötet der Körper.

M2-Fall_2: Wenn die Seele sich fürchtet, wird der Körper blass.

Das kann man so sehen. Aber es ist doch unbefriedigend, die Beispiele nicht mit in die Rekonstruktion des Arguments einzubeziehen. Wie man das doch tun kann, zeigt...

Rekonstruktion 2

Kleanthes unterscheidet ihr zufolge vier Fälle.

Fall 1:Der Körper affiziert die Seele.
Unterfall 1a:Wenn der Körper krank ist, leidet die Seele. (= M1-Fall_1)
Unterfall 1b:Wenn der Körper verletzt ist, leidet die Seele. (= M2-Fall_1)
Fall 2:Die Seele affiziert den Körper.
Unterfall 2a:Wenn die Seele sich schämt, errötet der Körper. (= M1-Fall_2)
Unterfall 2b:Wenn die Seele sich fürchtet, wird der Körper blass. (= M2-Fall_2)

Der Text enthält vier Argumente. Da die beiden Unterfälle zu Fall 1 und die beiden Unterfälle zu Fall 2 völlig parallel verlaufen, genügt es, je einen davon zu betrachten, zum Beispiel das Argument mit M2-Fall_1 (Verletzung) und das mit M1-Fall_2 (Erröten). Zunächst läuft alles wie gehabt. Das Argument mit M2-Fall_1 ist bis einschließlich Z3-Fall_1 identisch mit dem Argument für Fall 1 in Rekonstruktion 1. Das Argument mit M1-Fall_2 ist bis einschließlich Z3-Fall_2 identisch mit dem Argument für Fall 2 in Rekonstruktion 1. Nur werden im Argument mit M2-Fall_1 zwei neue Prämissen eingeführt:

PB-M2-Fall_1:Wenn, wenn der Körper verletzt ist, die Seele leidet,
dann affiziert der Körper die Seele.
M2-Fall_1:Wenn der Körper verletzt ist, leidet die Seele.

Daraus wird mit modus ponens auf P2-Fall_1 von Rekonstruktion 1 geschlossen. Sie hat also jetzt den Status einer Zwischenkonklusion:

Z4-M2-Fall_1: Der Körper affiziert die Seele.

Aus Z4-M2-Fall_1 und Z3-Fall_1 folgt mit der modus tollens-Variante die Konklusion. Entsprechend werden im Argument mit M1-Fall_2 zwei neue Prämissen eingeführt:

PB-M1-Fall_2:Wenn, wenn die Seele sich schämt, der Körper errötet,
dann affiziert die Seele den Körper.
M1-Fall_2:Wenn die Seele sich schämt, errötet der Körper.

Wieder wird mit modus ponens auf P2-Fall_2 von Rekonstruktion 1 geschlossen. Sie hat also jetzt den Status einer Zwischenkonklusion:

Z4-M1-Fall_2: Die Seele affiziert den Körper.

Aus Z4-M1-Fall_2 und Z3-Fall_2 folgt mit der modus tollens-Variante die Konklusion.

Zum Überblick ist es gut, sich noch einmal das Argument mit M2-Fall_1 in voller Länge vor Augen zu führen:

P1:Weder affiziert Körperliches Unkörperliches
noch affiziert Unkörperliches Körperliches.
Z1:Es ist nicht der Fall, dass Körperliches Unkörperliches affiziert;
und es ist nicht der Fall, dass Unkörperliches Körperliches affiziert. (aus P1)
Z2-Fall_1:Es ist nicht der Fall, dass Körperliches Unkörperliches affiziert. (aus Z1)
PB-1:Wenn es nicht der Fall ist, dass Körperliches Unkörperliches affiziert,
dann gilt: Wenn die Seele kein Körper ist, dann affiziert der Körper nicht die Seele.
Z3-Fall_1:Wenn die Seele kein Körper ist, dann affiziert der Körper nicht die Seele. (aus Z2-Fall_1 und PB-1 mit modus ponens)
PB-M2-Fall_1:Wenn, wenn der Körper verletzt ist, die Seele leidet,
dann affiziert der Körper die Seele.
M2-Fall_1:Wenn der Körper verletzt ist, leidet die Seele.
Z4-M2-Fall_1:Der Körper affiziert die Seele.
(aus PB-M2-Fall_1 und M2-Fall_1 mit modus ponens)
Konklusion:Die Seele ist ein Körper.
(aus Z3-Fall_1 und Z4-M2-Fall_1 mit modus tollens-Variante)

Kommentar

Beide Rekonstruktionen bedienen sich aussagenlogischer Schlussformen, die die Stoiker akzeptieren und die auch in der klassischen Aussagenlogik gelten. Die Rekonstruktion ist deduktiv gültig.

Man darf für beide Rekonstruktionen unterstellen, dass Kleanthes alle Prämissen akzeptiert hat, also der Ansicht war, ein stichhaltiges Argument vorzubringen. Es ist für beide Rekonstruktionen nicht offensichtlich absurd, alle Prämissen für wahr zu halten. Dennoch ist es interessant zu sehen, wer die Wahrheit welcher Prämisse bestreiten und damit die Stichhaltigkeit des Argumentes angreifen könnte.

1) Ein Anhänger von Platon (427-347 v. Chr.) oder ein Anhänger von René Descartes (1596-1650) wird P1 ablehnen: Psychophysische Interaktion ist seiner Ansicht nach auch bei immaterieller Seele möglich. Unkörperliches und Körperliches können doch interagieren.

2) Ein Anhänger von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) wird in der ersten Rekonstruktion die jeweils zweite Prämisse ablehnen, also P2-Fall_1 und P2-Fall_2. In der zweiten Rekonstruktion wird er die Brückenprämissen für die Unterfälle ablehnen, also zum Beispiel PB-M1-Fall_2 und PB-M2-Fall_1. Denn Leibniz vertrat einen psycho-physischen Parallelismus. Er hätte gesagt: Es ist zwar so, dass der Körper rot wird, wenn die Seele sich schämt. Aber das heißt noch lange nicht, dass die Seele den Körper affiziert. Und: Es ist zwar so, dass die Seele Schmerzen spürt, wenn der Körper verletzt wird. Aber das heißt nicht, dass der Körper die Seele affiziert. Es läuft einfach jeweils beides parallel (prästabilierte Harmonie). Es ist zu vermuten, dass ein Leibnizianer Rekonstruktion 2 besonders schätzt, weil sie es ihm erlaubt, besonders genau zu sagen, was er bestreitet.

3) Die Stoiker bejahten die Existenz der Seele. Sie hielten sie für eine Wolke aus feiner Materie. Was tut jemand, der nicht an die Existenz der Seele glaubt? Für Rekonstruktion 1 wird er die jeweils zweiten Prämissen bestreiten also P2-Fall_1 und P2-Fall_2: Es ist nicht der Fall, dass der Körper die Seele affiziert, weil es gar keine Seele gibt. Und es ist nicht der Fall, dass die Seele den Körper affiziert, weil es keine Seele gibt. Mit Rekonstruktion 2 ist es etwas komplizierter. Im Argument mit M2-Fall_1 wird er genau M2-Fall_1 ablehnen. Denn für den einschlägigen Fall, dass der Körper verletzt ist, ist er gerade nicht der Meinung, dass die Seele leidet, weil er meint, dass es keine Seele gibt. Im Argument mit M1-Fall_2 wird er hingegen M1-Fall_2 zugeben: Den Satz „Die Seele schämt sich“ hält er ja für falsch, weil es keine Seele gibt; deshalb wird das (hier einschlägige) materiale Konditional „Wenn die Seele sich schämt, errötet der Körper“ wahr. Aber gerade deshalb wird er PB-M1-Fall_2 ablehnen: Er hält zwar deren Antezedens („Wenn“-Teil), nämlich M1-Fall_2 („Wenn die Seele sich schämt, errötet der Körper“) für wahr, ihr Sukzedens („Dann“-Teil), „Die Seele affiziert den Körper“ aber für falsch.

Formale Detailanalyse

Beide Rekonstruktionen bedienen sich der klassischen Aussagenlogik.

Rekonstruktion 1

Abkürzungsverzeichnis für Fall 1 (Körper affiziert Seele):

p: Unkörperliches affiziert Körperliches.
q: Körperliches affiziert Unkörperliches.
r: Der Körper affiziert die Seele.
r*: Die Seele affiziert den Körper.
s: Die Seele ist ein Körper.

Rekonstruktion 1, Fall 1

1¬(pq)\neg (p \lor q)Prämisse („weder ... noch“)P1
2¬p¬q\neg p \land \neg q1 De MorganZ1
3¬q\neg q2 aussagenlogischZ2-Fall_1
4¬q(¬s¬r)\neg q \to (\neg s \to \neg r)(Brücken-)PrämissePB-1
5¬s¬r\neg s \to \neg r3,4 modus ponensZ3-Fall_1
6rrPrämisseP2-Fall_1
7ss5,6 modus tollens-VarianteK

Rekonstruktion 1, Fall 2

1¬(pq)\neg (p \land q)Prämisse („weder ... noch“)P1
2¬p¬q\neg p \land \neg q1 De MorganZ1
3¬p\neg p2 aussagenlogischZ2-Fall_1
4¬p(¬s¬r\*)\neg p \to (\neg s \to \neg r\*)(Brücken-)PrämissePB-1
5¬s¬r\*\neg s \to \neg r\*3,4 modus ponensZ3-Fall_1
6r\*r\*PrämisseP2-Fall_1
7ss5,6 modus tollens-VarianteK

Rekonstruktion 2, der Fall mit M2-Fall_1

Erweiterung des Abkürzungsverzeichnisses:

v: Der Körper ist verletzt.
l: Die Seele leidet

1¬(pq)\neg (p \lor q)Prämisse („weder ... noch“)P1
2¬p¬q\neg p \land \neg q1 De MorganZ1
3¬q\neg q2 aussagenlogischZ2-Fall_1
4¬q(¬s¬r)\neg q \to (\neg s \to \neg r)(Brücken-)PrämissePB-1
5¬s¬r\neg s \to \neg r3,4 modus ponensZ3-Fall_1
6vlv \to lPrämisseM2-Fall_1
7(vl)r(v \to l) \to r(Brücken-)PrämisseBP-M2-Fall_1
8rr6,7 modus ponensZ4-M2-Fall_1
9ss5,6 modus tollens-VarianteK

Literaturangaben

  • Arnim, Hans von (1964) [1905]: Stoicorum Veterum Fragmenta. Bd. I. Stuttgart: Teubner.
  • Anthony A. Long/David N. Sedley (1987): The Hellenistic Philosophers. Cambridge: Cambridge University Press.
  • Niko Strobach (2019), Einführung in die Logik. WBG: Darmstadt.

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Die Philosophen der älteren Stoa hatten eine Aussagenlogik, die der heutigen klassischen Aussagenlogik recht ähnlich ist (einführend: Strobach 2019, 44-49). Sie orientierten sich beim Argumentieren an dieser Logik, was zu Argumenten von großer Klarheit führte. Von einem der frühesten Stoiker, Chrysipp (ca. 280 – ca. 208 v. Chr.), ist ein bemerkenswertes Argument für eine Konklusion überliefert, welche die Stoiker selbst als These vertraten: Manche Tiere (außer dem Menschen) sind zu logischem Denken in der Lage. Das Argument ist bis zum heutigen Tag systematisch bedeutend, indem es zum Nachdenken über die Frage anregt, ob, und falls ja, wie Tiere denken können (Perler/Wild 2005).

Bibliographische Angaben

Das Argument des Chrysipp über den logisch schließenden Hund findet sich als Fragment 36E in Long/Sedley (1987) sowie in Hülser (1987). Es ist überliefert beim antiken Skeptiker Sextus Empiricus (Grundriß der pyrrhonischen Skepsis, I 69). Hier verwendete Übersetzung: Malte Hossenfelder. Auslassungen und Ergänzungen in eckigen Klammern: Niko Strobach. Auf eine Wiedergabe des griechischen Originals wird verzichtet.

Textstelle

Die Stelle lautet:

Nach Chrysipp [...] hat der Hund sogar an der vielgepriesenen Dialektik teil. Jedenfalls behauptet Chrysipp, der Hund wende das fünfte mehrgliedrige unbewiesene Argument an, wenn er an einen Dreiweg kommt und nach dem Spüren auf den zwei Wegen, die das Wild nicht entlang gelaufen sei, sofort den dritten entlang stürme, ohne hier überhaupt gespürt zu haben. Er schließe nämlich [...] dem Sinne nach (dynámei) folgendermaßen: „Das Wild ist entweder hier oder hier oder hier entlang gelaufen. Weder aber hier noch hier. Also hier.“

Das griechische Äquivalent zu „Hund“ („kyôn“) findet sich zwar nicht an der Textstelle selbst, kann aber sicher ergänzt werden, da ihr Kontext eine Passage über die Fähigkeiten von Hunden ist.

Argumentrekonstruktion

Das Argument hat die Struktur eines doppelten modus ponens. Der modus ponens ist eine Schlussform, welche die Stoiker akzeptierten: Wenn p, dann q; nun aber p; also q.

  • P1: Wenn es einen Hund gibt, der einen disjunktiven modus tollens mit drei Fällen anwendet, dann gibt es wenigstens einen Hund, der zu logischem Denken in der Lage ist (er „nimmt an der vielgepriesenen Dialektik teil“).
  • P2: Wenn es einen (Jagd-) Hund gibt, der an einer dreifachen Weggabelung, nachdem er in zwei Wege geschnüffelt hat, die das verfolgte Tier nicht genommen hat, ohne weiteres Schnüffeln in den dritten Weg läuft, dann gibt es einen Hund, der den disjunktiven modus tollens mit drei Fällen (Entweder p oder q oder r; nun aber weder p noch q; also r) anwendet.
  • P3: Es gibt einen Hund, der an einer dreifachen Weggabelung, nachdem er in zwei Wege geschnüffelt hat, die das verfolgte Tier nicht genommen hat, ohne weiteres Schnüffeln in den dritten Weg läuft.
  • Z1: Es gibt einen Hund, der einen disjunktiven modus tollens mit drei Fällen anwendet. (aus P2 und P3 mit modus ponens)
  • K: Es gibt es ist wenigstens einen Hund, der zu logischem Denken in der Lage ist. (aus P1 und Z1 mit modus ponens)

Kommentar

Die Rekonstruktion bedient sich einer aussagenlogischen Schlussformel, die die Stoiker akzeptierten und die auch in der klassischen Aussagenlogik gilt. Die Rekonstruktion ist deduktiv gültig. Ist sie auch stichhaltig? Dafür müssten alle Prämissen wahr sein. Chrysipp hat sie offenbar für wahr gehalten. Aber sind sie das? Es ist sinnvoll, die Prämissen in umgekehrter Reihenfolge zu betrachten.

P3 ist eine empirische Prämisse. Um ihre Wahrheit zu etablieren, muss man einen Hund finden, der das in P3 beschriebene Verhalten auch wirklich an den Tag legt. Dabei muss man Beobachtungsfehler sorgfältig vermeiden. Sieht man (am besten, wenn man die Aufnahme eines Experiments in Zeitlupe ansieht) genau, dass der Hund in die ersten beiden Wege schnüffelt? Dass er in den dritten nicht hineinschnüffelt? Man muss sich davor hüten, P3 einfach zu glauben, weil man das Vorurteil hat, dass Hunde viel können. Chrysipp formuliert P3 vorbildlich: Es ergibt sich aus seiner Beschreibung genau, wie ein Experiment zum Test von P3 aussehen würde. Die Antwort auf die Frage, ob P3 wahr ist, lautet also: Schauen wir!

Übrigens mag man sich fragen, ob die oben vorgenommene Rekonstruktion angemessen ist, wenn die Wahrheit von P3 nur das beschriebene Verhalten eines einzigen Hundes verlangt. Soll für das, was Chrysipp behauptet, bereits ausreichen, dass ein Hund das beschriebene Verhalten einmalig zeigt, oder soll wenigstens ein Hund dies üblicherweise tun? Will Chrysipp nicht etwas über arttypisches Verhalten von Hunden sagen? Dann sollte man das Experiment wohl mit vielen Hunden machen. Man mag deshalb eine formal ganz parallele Rekonstruktion erwägen, in der das Gegenstück zu P3 lautet:

  • P3P3': Hunde, die an einer dreifachen Weggabelung, nachdem sie in zwei Wege geschnüffelt haben, die ein verfolgtes Tier nicht genommen hat, laufen (art-)typischerweise ohne weiteres Schnüffeln in den dritten Weg.

Freilich müsste man dann sehr genau sagen, unter welchen Bedingungen man die Wahrheit von P3P3' für empirisch nachgewiesen oder aber widerlegt hält. (Wie viele Hunde testet man? Wie viele Ausreißer sind für arttypisches Verhalten erlaubt?)

P2 scheint ein klarer Fall zu sein. Aber auch hier ist größte methodische und begriffliche Vorsicht angebracht. Angenommen, P3 ist wahr. Können wir dem beobachteten Verhalten wirklich ohne weiteres entnehmen, dass der Hund den disjunktiven modus tollens mit drei Fällen angewendet hat? Ist das vielleicht nur eine Hypothese von uns, die sein Verhalten gut erklärt? Wieviel, und was, muss dem Hund durch den Kopf gehen, damit wir von „anwenden“ sprechen? Was haben wir damit gemeint? Es gibt einen Hinweis im Originaltext darauf, dass Chrysipp dieses Problem gesehen hat. Er schreibt vorsichtig, der Hund schließe dynámei wie beschrieben. Das Wort „dynámei“ ist an dieser Stelle schwer zu übersetzten. Hossenfelder übersetzt „dem Sinne nach“. Bury übersetzt „implicitly“. Die Antwort auf die Frage, ob P2 wahr ist, lautet also: Das hängt von einer guten Theorie über Hunde ab.

P1 scheint über jeden Zweifel erhaben. Doch auch hier kann man einen Moment zögern. Damit wir dem Hund die Fähigkeit zu logischem Denken attestieren, sollte der disjunktive modus tollens mit drei Fällen lieber kein Fehlschluss sein. Fähigkeit zum logischen Denken ist ein normatives Konzept. Der Hund soll es richtig machen. P1 ist nur dann wahr, wenn der disjunktive modus tollens mit drei Fällen ein gültiger Schluss ist. Die Stoiker haben den disjunktiven modus tollens mit n Fällen (n \geq 2) für so offensichtlich gültig gehalten, dass sie ihm den Status eines Axioms gegeben haben, das man nicht weiter begründet. Das ist mit „fünftes mehrgliedriges unbewiesenes Argument“ gemeint (sozusagen: „Axiom No. 5“). Aber hatten sie damit Recht? Das ist ein echtes Problem, selbst wenn man heutige nichtklassische Logiken ausklammert – was hiermit geschehen sei. Es fragt sich: Lässt sich ein disjunktiver modus tollens mit n Fällen immer in einen gültigen Schluss der klassischen Aussagenlogik übersetzen? Diese Frage wird im zweiten Teil des Abschnitts „Formale Detailanalyse“ diskutiert (er erfordert starke Nerven und kann übergangen werden). Die Antwort wird „ja“ lauten. Das etabliert die Wahrheit von P1 unter Voraussetzung der klassischen Aussagenlogik. Aber die Übersetzung wird schwieriger sein, als man zunächst meint.

Formale Detailanalyse

Das Hauptargument lässt sich leicht mit Mitteln der klassischen Aussagenlogik als deduktiv gültiges Argument formalisieren:

Abkürzungsverzeichnis

  • p: Es gibt einen Hund, der an einer dreifachen Weggabelung, nachdem er in zwei Wege geschnüffelt hat, die das verfolgte Tier nicht genommen hat, ohne weiteres Schnüffeln in den dritten Weg läuft.
  • q: Es gibt einen Hund, der einen disjunktiven modus tollens mit drei Fällen anwendet.
  • r: Es gibt es ist einen Hund, der zu logischem Denken in der Lage ist.

Argument

1q \to rPrämisseP1
2p \to qPrämisseP2
3pPrämisseP3
4q2,3 modus ponensZ1
5r1,4 modus ponensK

Bei der Diskussion der Wahrheit von P1 hat sich die folgende Frage ergeben: Lässt sich ein disjunktiver modus tollens mit n Fällen (n \geq 2) immer in einen gültigen Schluss mit Formeln der klassischen Aussagenlogik übersetzen? Um die Frage zu beantworten, muss man zunächst scharfstellen, was der disjunktive modus tollens mit n Fällen (n \geq 2) genau ist. Er besteht aus einer disjunktiven Prämisse mit n Fällen und n – 1 weiteren Prämissen, in denen alle Fälle aus der disjunktiven Prämisse bis auf einen ausgeschlossen werden, der die Konklusion ist. Was sind die Wahrheitsbedingungen einer disjunktiven Prämisse in der Logik der Stoiker? Darüber gibt uns das folgende Fragment zur stoischen Logik Auskunft (Long/Sedley (1987), 35E):

[Für das, was wir auf Latein] disiunctum nennen [...gilt:] Von all den [Sätzen], die getrennt werden, muss genau einer wahr sein, die übrigen falsch.“

Die Junktoren der klassischen Aussagenlogik sind, abgesehen vom einstelligen Negator, zweistellige Junktoren. Man wird daher zunächst nach einer Übersetzung für den Spezialfall des disjunktiven modus tollens mit zwei Fällen suchen. Hier gibt es zwei Kandidatinnen. In einem Fall wird das Zeichen \lor verwendet, das als Zeichen für eine inklusive „Oder“-Verbindung eingeführt ist, im anderen Fall das Zeichen \mathrel{\nabla}, das als Zeichen für eine exklusive „Oder“-Verbindung stehen soll. Das metasprachliche Zeichen \models drückt aus, dass, was rechts davon steht, aus dem folgt, was links davon steht. Die Kandidatinnen für eine Übersetzung sind:

(1) pq,¬pqp \lor q, \neg p \models q
(2) pq,¬pqp \mathrel{\nabla} q, \neg p \models q

(1) und (2) sind zwar beides gültige Schlüsse der klassischen Aussagenlogik. Man kann das mit einem üblichen Verfahren, zum Beispiel der Tableau-Methode, leicht zeigen. Aber sind beide gleich gute Übersetzungen des disjunktiven modus tollens mit zwei Fällen? Nein, (2) ist besser. Denn die Wahrheitsbedingungen von pq\text{„} p \lor q \text{“} in (1) stimmen nicht mit denen der stoischen disjunktiven Prämisse mit zwei Fällen überein. pq\text{„} p \lor q \text{“} wird auch dann wahr, wenn „p“ und „q“ beide wahr sind. Die von pq\text{„} p \mathrel{\nabla} q \text{“} tun dies. Nachdem das geklärt ist, meint man leicht, eine angemessene Übersetzung des disjunktiven modus tollens mit drei Fällen zu haben, der sich auf n Fälle verallgemeinern lässt:

(3) (pq)r,¬p,¬qr(p \mathrel{\nabla} q) \mathrel{\nabla} r, \neg p, \neg q \models r

Das ist zwar wiederum ein gültiger Schluss der klassischen Aussagenlogik (wie sich wieder mit einem üblichen Verfahren leicht zeigen lässt – dasselbe gilt für \text{„}\nabla\text{“} statt \text{„} \mathord{\lor} \text{“} und auch, wenn man anders klammert). Aber überraschenderweise hat (3) als Übersetzung des disjunktiven modus tollens mit drei Fällen dasselbe Problem wie (1): Wenn „p“, „q“ und „r“ alle wahr sind, ist (pq)r\text{„} (p \mathrel{\nabla} q) \mathrel{\nabla}r \text{“} wahr – was nicht zur stoischen Semantik für disjunktive Prämissen passt. Mit zweimal \text{„}\mathord{\lor}\text{“} hat man das Problem erst recht. Was mit der disjunktiven Prämisse mit drei Fällen ausgedrückt werden soll, ist komplizierter. Der Hund jagt ein Kaninchen, nicht ein Photon. Ein Kaninchen nimmt nur einen Weg auf einmal. Die Disjunkte der stoischen disjunktiven Prämisse entsprechen diesem Stück Weltwissen:

  • „eines wahr, die übrigen falsch“.
  • p¬q¬r¬pq¬r¬p¬qrp \land \neg q \land \neg r\hspace{10mm}\neg p \land q \land \neg r\hspace{10mm}\neg p \land \neg q \land r

Womit sollte man die Disjunkte verbinden? In Frage kommen \mathrel{\nabla} und \lor:

(4) ((p¬q¬r)(¬pq¬r))(¬p¬qr)((p \land \neg q \land \neg r) \mathrel{\nabla} (\neg p \land q \land \neg r)) \mathrel{\nabla} (\neg p \land \neg q \land r)
(5) ((p¬q¬r)(¬pq¬r))(¬p¬qr)((p \land \neg q \land \neg r) \lor (\neg p \land q \land \neg r)) \lor (\neg p \land \neg q \land r)

Beide Varianten sind als Übersetzungen der disjunktiven Prämisse mit drei Fällen gleich gut: Sie werden genau in den drei Fällen wahr, die man auszeichnen möchte: nur p, nur q, nur r. Und die Schlüsse? Auch hier ist beides gültig (um sich zu überzeugen, sind sogar Wahrheitswerttabellen mal nützlich):

(6) ((p¬q¬r)(¬pq¬r))(¬p¬qr),¬p,¬qr((p \land \neg q \land \neg r) \mathrel{\nabla} (\neg p \land q \land \neg r)) \mathrel{\nabla} (\neg p \land \neg q \land r), \neg p, \neg q \models r
(7) ((p¬q¬r)(¬pq¬r))(¬p¬qr),¬p,¬qr((p \land \neg q \land \neg r) \lor (\neg p \land q \land \neg r)) \lor (\neg p \land \neg q \land r), \neg p, \neg q \models r

Mit nur zwei Fällen stimmt’s auch. Und mit n Fällen. Es bietet sich daher an, eine n-stellige stoische Disjunktion mit der folgenden Regel für eine abkürzende Notation zu simulieren:

(Def. n)nα1αn\mathrel{\nabla}^n) \ulcorner\mathrel{\nabla}^n \alpha_1 \ldots \alpha_n\urcorner kürzt ab:
(α1¬α2¬αn)(¬α1¬αn1αn)\ulcorner (\alpha_1\land \neg\alpha_2 \land \ldots \land \neg\alpha_n) \lor \ldots \lor (\neg\alpha_1 \land \ldots \neg\alpha_{n-1} \land \alpha_n)\urcorner

Nun lässt sich als gültiges Schlussschema der klassischen Aussagenlogik festhalten:

(8) nα1αn,¬α1,,¬αn1αn\mathrel{\nabla}^n \alpha_1 \ldots \alpha_n, \neg\alpha_1, \ldots, \neg\alpha_{n-1} \models\alpha_n

Ein Spezialfall dieses Schemas ist:

(9) 3pqr,¬p,¬qr\mathrel{\nabla}^3 p q r, \neg p, \neg q \models r

Das rechtfertigt den stoischen disjunktiven modus tollens mit drei Fällen vom Standpunkt der klassischen Aussagenlogik und bietet eine gute Motivation für die Wahrheit von P1. Für den Fall, dass P2 und P3 wahr sind, kann man festhalten: Ganz schön schlau, der Hund.

Literaturangaben

  • Karlheinz Hülser (1987): Die Fragmente zur Dialektik der Stoiker. 4 Bde. Stuttgart-Bad Cannstadt 1987 f.
  • Anthony A. Long/David N. Sedley (1987): The Hellenistic Philosophers. Cambridge: Cambridge University Press.
  • Sextus Empiricus (1968): Grundriß der pyrrhonischen Skepsis. Eingeleitet und übersetzt von Malte Hossenfelder. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
  • Sextus Empiricus (1933): Outlines of Pyrrhonism. Übersetzt von R.G. Bury. Cambridge/MA: Harvard University Press.
  • Niko Strobach (2019), Einführung in die Logik. WBG: Darmstadt.

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Weil der australische Philosoph Frank Jackson der Hauptfigur einer kleinen Geschichte den Allerweltsnamen „Mary“ gegeben hat, ist das Argument, das diese Geschichte illustrieren soll, als Mary-Argument (oder, kürzer, Mary) bekannt. Es ist eines der berühmtesten Argumente in der Philosophie des Geistes (philosophy of mind) geworden, obwohl Jackson es selbst später skeptisch gesehen hat. Es ist ein Argument gegen eine Position, die den Namen „Physikalismus“ („physicalism“) trägt. Aus dem Argument geht nebenbei recht gut verständlich hervor, worin diese Position besteht.

Bibliographische Angaben

Frank Jackson, Journal of Philosophy, 83/5 (1986), 291-295 [PhilPapers] [DOI]

Textstelle

Jacksons Argument lautet:

„Mary is confined to a black-and-white room, is educated through black-and-white books and through lectures relayed on black-and-white television. In this way she learns everything there is to know about the physical nature of the world. She knows all the physical facts about us and our environment, in a wider sense of “physical” which includes everything in completed physics, chemistry and neurophysiology [...]. If physicalism is true, she knows all there is to know. […] It seems, however, that Mary does not know all there is to know. For when she is let out of the black-and-white room or given a color television, she will learn what it is like to see something red, say. This is rightly described as learning – she will not say ‘ho, hum.’ Hence, physicalism is false.”

Argumentrekonstruktion

Es scheint auf den ersten Blick so, dass das Mary-Argument ein ganz einfach gebautes Argument ist, nämlich ein so genannter modus tollens, kurz m.t.: Wenn p, dann q; nun aber nicht q; also nicht p.

Rekonstruktionsversuch

Prämisse 1: Wenn der Physikalismus wahr ist, weiß Mary alles, was es zu wissen gibt.
Prämisse 2: Mary weiß nicht alles, was es zu wissen gibt.
Konklusion: Der Physikalismus ist nicht wahr. (modus tollens aus P1, P2)

Der modus tollens wird für gewöhnlich als gültig anerkannt und ist auch ein gültiger Schluss der klassischen Aussagenlogik. Dieser erste Rekonstruktionsversuch fängt zwar schon wichtige Elemente des Textes ein. Aber er berücksichtigt einen Punkt nicht, der doch zum Kern des Arguments gehört: das Lernen. Es ist daher besser, eine etwas kompliziertere Rekonstruktion vorzunehmen, in der dieser Punkt berücksichtigt ist. In ihr ist der modus tollens kombiniert mit einem so genannten modus ponens, kurz m.p.: Wenn p, dann q; nun aber p; also q.

Rekonstruktion

Prämisse 1: Wenn der Physikalismus wahr ist, weiß Mary alles, was es zu wissen gibt.
Prämisse 2a: Wenn Mary etwas lernt, dann weiß Mary nicht alles, was es zu wissen gibt.
Prämisse 3: Mary lernt etwas.
Zwischenkonklusion Z: Mary weiß nicht alles, was es zu wissen gibt. (m.p. aus P2a, P3)
Konklusion: Der Physikalismus ist nicht wahr. (m.t. aus P1, Z)

Der modus ponens wird gewöhnlich ebenfalls als gültig anerkannt und ist auch ein gültiger Schluss der klassischen Aussagenlogik.

Kommentar

An der deduktiven Gültigkeit besteht kein Zweifel. Die Frage ist, ob das Argument auch stichhaltig ist. Das ist so, falls es nicht nur deduktiv gültig ist, sondern auch seine Prämissen wahr sind.

Um sich fragen zu können, ob die Prämissen wahr sind, muss man sie zunächst inhaltlich verstehen. Dafür muss man ungefähr wissen, was das Wort „Physikalismus“ bedeutet. Man kann das indirekt den ersten Sätzen des zitierten Textes entnehmen: Physikalismus ist die These, dass alles physikalisch ist. Etwas genauer gesagt: Physikalismus ist die These, dass alle Tatsachen (Fakten) physikalische Tatsachen sind. Daraus folgt: Wenn der Physikalismus wahr ist, dann kennt jemand, der alle physikalischen Tatsachen kennt, überhaupt alle Tatsachen. Zurzeit sind längst nicht alle physikalischen Tatsachen bekannt. Das berücksichtigt Jackson, indem er die physikalischen Tatsachen in einem weiten Sinn charakterisiert: als diejenigen Tatsachen, die eine dereinst vollendete Naturwissenschaft, die Physik, Chemie und Neurowissenschaft vereinigt, erkannt haben wird.

Da das Argument gültig ist, muss ein Verteidiger des Physikalismus, der seine Stichhaltigkeit bestreitet, wenigstens eine der Prämissen bestreiten. Hier gibt es verschiedene Möglichkeiten.

Zweifel an der Stichhaltigkeit 1: P2a zugeben und P3 bestreiten: Ja, wenn Mary etwas (Neues) lernen würde, dann wäre der Physikalismus falsch. Aber Mary lernt gar nichts Neues. Lernen kann man nämlich nur etwas, was es zu wissen gibt, und sie weiß schon alles. Sie gewinnt bloß neue (vielleicht überwältigende) Eindrücke.

Variante, die ebenfalls P3 bestreitet: Mary lernt nichts Neues. Sie weiß sogar schon, wie rote und gelbe Dinge aussehen. Wir können uns nicht vorstellen, wie es ist, alles zu wissen. Diese Variante illustriert Daniel Dennett mit einer Fortsetzung der Geschichte: Man zeigt Mary als erstes eine blaue angemalte Banane und sie reagiert (sinngemäß) mit „Für wie dumm haltet ihr mich eigentlich?” (Dennett 1991, 399).

Zweifel an der Stichhaltigkeit 2: P3 zugeben und P2a bestreiten. Mary lernt zwar etwas Neues, nämlich: wie es sich anfühlt, rot zu sehen. Aber der Physikalismus ist trotzdem nicht falsch. Denn Mary lernt nichts, was im hier einschlägigen Sinne des Wortes „Wissen“ Wissen ist. Das bezieht sich auf Tatsachen, und Mary hat schon komplettes Tatsachenwissen. Rot-Eindrücke (oder wie es ist, sie zu haben) sind keine Tatsachen.

Formale Detailanalyse

Das Argument lässt sich wie folgt als gültiger Schluss der klassischen Aussagenlogik formalisieren:

Abkürzungsverzeichnis

p:p: Der Physikalismus ist wahr.
q:q: Mary weiß alles, was es zu wissen gibt.
r:r: Mary lernt etwas.

Rekonstruktion

1pqp \to qPrämisseP1
2r¬qr \to \neg qPrämisseP2a
3rrPrämisseP3
4¬q\neg q2,3 modus ponens
5¬p\neg p1,4 modus ponens

Literaturangaben

  • Daniel Dennett (1991): Consciousness Explained, Boston: Little, Brown, & Co.
  • Peter J. Ludlow, Yujin Nagasawa und Daniel Stoljar (Hrsg.) (2004): There’s something about Mary: essays on phenomenal consciousness and Frank Jackson’s knowledge argument, MIT Press, Cambridge (Massachusetts).

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Dieses Fragment aus dem Nachlass Friedrich Nietzsches behandelt die Frage nach dem Status des Satzes vom Widerspruch im Besonderen und der Logik im Allgemeinen. Er argumentiert für die Auffassung, dass die Logik keine deskritive, sondern eine normative Rolle spielt.

Bibliographische Angaben

Das nachgelassene Fragment stammt aus dem Jahr 1887 und findet sich in Band 12 der Kritischen Studienausgabe: N 1887, 9[97], KSA 12, S. 389.

Textstelle

Wenn, nach Aristoteles der Satz vom Widerspruch der gewisseste aller Grundsätze ist, wenn er der letzte und unterste ist, auf den alle Beweisführung[en] zurückgehn, wenn in ihm das Princip aller anderen Axiome liegt: um so strenger sollte man erwägen, was er im Grunde schon an Behauptungen voraussetzt. Entweder wird mit ihm etwas in Betreff des Wirklichen, Seienden behauptet, wie als ob er dasselbe anderswoher bereits kennte: nämlich daß ihm nicht entgegengesetzte Prädikate zugesprochen werden können. Oder der Satz will sagen: daß ihm entgegengesetzte Prädikate nicht zugesprochen werden sollen? Dann wäre Logik ein Imperativ, nicht zur Erkenntniß des Wahren, sondern zur Setzung und Zurechtmachung einer Welt, die uns wahr heißen soll. Kurz, die Frage steht offen: sind die logischen Axiome dem Wirklichen adäquat, oder sind sie Maaßstäbe und Mittel, um Wirkliches den Begriff „Wirklichkeit“ für uns erst zu schaffen?… Um das Erste bejahen zu können, müßte man aber, wie gesagt, das Seiende bereits kennen; was schlechterdings nicht der Fall ist. Der Satz enthält also kein Kriterium der Wahrheit, sondern einen Imperativ über das, was als wahr gelten soll.

(Friedrich Nietzsche, N 1887, 9[97], KSA 12, S. 389, Hervorhebungen im Original.)

Argumentrekonstruktion

Nietzsches Argument lässt sich als ein Schluss von drei Prämissen auf die zu begründende Konklusion rekonstruieren. Einige alternative und abgewandelte Rekonstruktionsmöglichkeiten werden im Kommentar diskutiert.

  1. Entweder der Satz vom Widerspruch besagt, dass dem Seienden keine entgegengesetzten Prädikate zugesprochen werden können, oder der Satz vom Widerspruch besagt, dass dem Seienden keine entgegengesetzten Prädikate zugesprochen werden sollen.
  2. Wenn der Satz vom Widerspruch besagt, dass dem Seienden keine entgegengesetzten Prädikate zugesprochen werden können, dann kennen wir das Seiende bereits unabhängig vom Satz vom Widerspruch.
  3. Es ist nicht der Fall, dass wir das Seiende bereits unabhängig vom Satz vom Widerspruch kennen.

  1. Der Satz vom Widerspruch besagt, dass dem Seienden keine entgegengesetzten Prädikate zugesprochen werden sollen. (aus 1-3)

Kommentar

Dieses Fragment beginnt mit einer Motivation der Fragestellung: Welchen Status hat der Satz vom Widerspruch im Besonderen und die Logik im Allgemeinen? Auch wenn Nietzsche zunächst nur von ersterem spricht, deutet die spätere Rede von „logischen Axiomen“ klar darauf hin, dass der Satz vom Widerspruch hier pars pro toto für die Logik als Ganze verstanden werden kann. Auch die einleitende Ausführung zur Stellung dieses Axioms in der Philosophie des Aristoteles spricht für diese Deutung.

Danach wird behauptet, dass in der Frage des Gehalts des Satzes vom Widerspruch genau zwei Alternativen bestehen. Diese Aussage findet sich als ersten Prämisse des rekonstruierten Arguments wieder. Die zweite Prämisse benennt eine Konsequenz der ersten Alternative. Und von dierser wird dann durch die Wendung „was schlechterdings nicht der Fall ist“ klar gesagt, dass sie nicht der Fall ist (Prämisse drei). Doch worin genau besteht die hier verneinte Aussage? Sie besagt, dass wir „das Seiende bereits kennen“. Wie lässt sich das jedoch genauer fassen und wie ist das Wörtchen „bereits“ hier zu verstehen?

In der vorgeschlagenen Rekonstruktion ist dieses Problem so gelöst, dass das Seiende logisch unabhängig vom Satz vom Widerspruch bekannt sein müsste, wenn die erste Alternative der Fall wäre. Und da das wiederum „schlechterdings nicht der Fall ist“, vielleicht da wir den Satz vom Widerspruch immer schon voraussetzen, wenn wir über das Seiende nachdenken, kann die erste Alternative per Modus Tollens ausgeschlossen werden. Dementsprechend folgt am Ende die Wahrheit der zweiten Alternative per Ausschlussprinzip. Eine formale Darstellung findet sich weiter unten.

Nicht nur, aber vor allem bei einem solchen, fragmentarischen Text lassen sich auch einige andere und abgewandelte Rekonstruktionen gut begründen.

Erstens wurde hier ausgelassen, dass Nietzsche auch darauf schließt, dass der Satz vom Widerspruch „also kein Kriterium der Wahrheit“ enthält. Vielleicht ist das durch die Falschheit der ersten Alternative begründet, vielleicht aber auch durch die Wahrheit der zweiten Alternative, auf die hier geschlossen wird. In beiden Fällen ließe sich eine passende Subjunktion als weitere Prämisse ergänzen, um auch auf diese Aussage schließen zu können.

Zweitens wurde hier ebenfalls ausgelassen, dass Nietzsche begründet, dass „die Logik ein Imperativ“ ist. Dies lässt sich vermutlich als Formulierungsvariante der zweiten Alternative verstehen, wenn man unterstellt, dass im Text nicht streng zwischen Imperativen und Sollens-Aussagen unterschieden wird. Eine weitere Möglichkeit wäre es, auch hier schlicht eine passende weitere Prämisse zu ergänzen. Zum Beispiel: „Wenn der Satz vom Widerspruch besagt, dass dem Seienden keine entgegengesetzten Prädikate zugesprochen werden sollen, dann ist die Logik ein Imperativ über das, was uns als wahr gelten soll.“

Drittens schließlich könnte bei dieser Rekonstruktion die zweite Prämisse problematisch erscheinen. Hier wird ein Zusammenhang zwischen einer Aussage über den Gehalt des Satzes vom Widerspruch im „wenn“-Teil und einer Aussage über die Bedingungen unserer Kenntnis des Seienden im „dann“-Teil hergestellt. Aber besteht der Zusammenhang tatsächlich mit der Aussage über den Satz vom Widerspruch und nicht eher mit dem betreffenden Gehalt? Müsste der „wenn“-Teil also nicht entsprechend abgewandelt werden?

An dieser Stelle liegt die Hypothese nahe, dass das Fragment zwar den Gehalt des Satzes vom Widerspruch behandelt, offenbar aber nicht aber an dessen Geltung zweifelt oder diese zumindest nicht thematisiert. Wenn die zweite Prämisse also wie beschrieben abgewandelt wird und dementsprechend auch die erste Prämisse nochmals überarbeitet werden muss, dann ließe sich die dort genannte Alternative wohl am besten als „dann“-Teil einer Subjunktion verstehen, in deren „wenn“-Teil dann die Geltung des Satzes vom Widerspruch als eine Vorbedingung behauptet wird. Diese Vorbedingung erschiene logisch folgerichtig dann ebenfalls in der Konklusion. Diese alternative Rekonstruktionsmöglichkeit sähe insgesamt also so aus:

  1. Wenn der Satz vom Widerspruch wahr ist, dann gilt: entweder es können dem Seienden keine entgegengesetzten Prädikate zugesprochen werden, oder es sollen dem Seienden keine entgegengesetzten Prädikate zugesprochen werden sollen.
  2. Wenn dem Seienden keine entgegengesetzten Prädikate zugesprochen werden können, dann kennen wir das Seiende bereits unabhängig vom Satz vom Widerspruch.
  3. Es ist nicht der Fall, dass wir das Seiende bereits unabhängig vom Satz vom Widerspruch kennen.

  1. Wenn der Satz vom Widerspruch wahr ist, dann sollen dem Seienden keine entgegengesetzten Prädikate zugesprochen werden. (aus 1-3)

Je nach Interpretation ließe sich hier natürlich auch die Prämisse, dass der Satz vom Widerspruch in der Tat wahr ist ergänzen, und am Ende auch darauf schließen, dass dem Seienden in der Tat keine entgegengesetzten Prädikate zugesprochen werden sollen.

Formale Detailanalyse

Der Schluss lässt sich in der ersten Rekonstruktionsform wie folgt formalisieren:

  1. p \lor q
  2. p \rightarrow r
  3. ¬\lnot r

  1. q

Dabei stehen die Buchstaben für die folgenden Aussagen:

  • p: Der Satz vom Widerspruch besagt, dass dem Seienden keine entgegengesetzten Prädikate zugesprochen werden können.
  • q: Der Satz vom Widerspruch besagt, dass dem Seienden keine entgegengesetzten Prädikate zugesprochen werden sollen.
  • r: Wir kennen das Seiende bereits unabhängig vom Satz vom Widerspruch.

In der zweiten Rekonstruktionsform sieht die Formalisierung so aus:

  1. s \rightarrow (p \lor q)
  2. p \rightarrow r
  3. ¬\lnot r

  1. s \rightarrow q

Um die beiden Rekonstruktionen leichter vergleichbar zu machen, steht hier „r“ für dieselbe Aussage wie oben und „p“ und „q“ für diejenigen Aussagen, die oben in „p“ und „q“ eingebettet waren:

  • s: Der Satz vom Widerspruch ist wahr.
  • p: Dem Seienden können keine entgegengesetzten Prädikate zugesprochen werden.
  • q: Dem Seienden sollen keine entgegengesetzten Prädikate zugesprochen werden.
  • r: Wir kennen das Seiende bereits unabhängig vom Satz vom Widerspruch.