Zum Hauptinhalt springen

2 Rekonstruktionen getaggt mit "Stoa"

Alle Tags anzeigen

· 12 Minuten Lesezeit
Als PDF herunterladen
Die Philosophen der älteren Stoa hatten eine Aussagenlogik, die der heutigen klassischen Aussagenlogik recht ähnlich ist (einführend: Strobach 2019, 44-49). Sie orientierten sich beim Argumentieren an dieser Logik, was zu Argumenten von großer Klarheit führte. Von einem der frühesten Stoiker, Kleanthes (ca. 300 v. Chr.), ist eine bemerkenswerte Argumentation für eine Konklusion überliefert, welche die Stoiker selbst als These vertraten: Die Seele ist materiell. Die Argumentation ist bis zum heutigen Tag systematisch bedeutend: Kleanthes war offenbar der Ansicht, dass jeder, der seine These bestreitet, mit einem Problem der psychophysischen Interaktion konfrontiert ist, das unlösbar ist.

Bibliographische Angaben

Die Argumentation des Kleanthes ist auf Griechisch ediert als Fragment 518 in Band 1 der Fragmentsammlung Stoicorum Veterum Fragmenta (SVF) und als Fragment 45C in Long/Sedley (1987). Hier verwendete Übersetzung: Niko Strobach. Auf eine Wiedergabe des griechischen Originals wird verzichtet.

Textstelle

Der Text lautet:

Weder leidet Unkörperliches mit einem Körper mit,
noch ein Körper mit Unkörperlichem.
Die Seele leidet aber mit dem kranken oder zerschnittenen Körper mit;
ebenso der Körper mit der Seele:
wenn sie [= die Seele] sich schämt, wird er [= der Körper] rot;
wenn sie sich fürchtet, blass.
Ein Körper also ist die Seele.

Argumentrekonstruktion

Die sehr dicht formulierte Argumentation besteht aus mehreren parallel gebauten Argumenten. Im Folgenden sollen zwei Rekonstruktionen präsentiert werden. Die erste Rekonstruktion sieht zwei parallele Argumente. Die zweite Rekonstruktion, die die erste verfeinert, sieht sogar vier parallele Argumente. Wo im Griechischen „mitleiden“ („sympaschein“) steht, ist das weiter zu fassen, als es das deutsche Wort „leiden“ nahelegt. Entscheidend ist der kausale Einfluss. „A leidet mit B mit“ ist zu verstehen als „B affiziert A“.

Rekonstruktion 1

Kleanthes unterscheidet zwei Fälle.

Fall 1: Der Körper affiziert die Seele.

Fall 2: Die Seele affiziert den Körper.

Mit jedem der beiden Fälle wird ein Argument durchgeführt. Beide Male hat die erste Prämisse, P1, die Form „Weder p noch q“.

P1: Weder affiziert Körperliches Unkörperliches
noch affiziert Unkörperliches Körperliches.

„Weder p noch q“ ist aussagenlogisch äquivalent mit „Nicht p; und nicht q“ (De Morgan’sches Gesetz). Das ergibt eine erste Zwischenkonklusion:

Z1: Es ist nicht der Fall, dass Körperliches Unkörperliches affiziert;
und es ist nicht der Fall, dass Unkörperliches Körperliches affiziert. (aus P1)

Für Fall 1 ist entscheidend, dass aus Z1 aussagenlogisch folgt:

Z2-Fall_1: Es ist nicht der Fall, dass Körperliches Unkörperliches affiziert. (aus Z1)

Für Fall_2 ist entscheidend, dass aus Z1 aussagenlogisch folgt:

Z2-Fall_2: Es ist nicht der Fall, dass Unkörperliches Körperliches affiziert. (aus Z1)

Ab dieser Stelle wird es etwas knifflig. Man möchte am liebsten als nächstes sofort eine Prämisse P2-Fall_1 und eine Prämisse P2-Fall_2 ins Spiel bringen:

P2-Fall_1: Der Körper affiziert die Seele. (= „Die Seele leidet mit dem Körper mit.“)

P2-Fall_2: Die Seele affiziert den Körper. (= „Der Körper leidet mit der Seele mit.“)

Aber von der Seele war bisher noch gar nicht die Rede. Der Anschluss fehlt. Er muss durch zwei zu ergänzende Brückenprämissen, PB-1 und PB-2, hergestellt werden. Hier bieten sich an:

PB-Fall_1:Wenn es nicht der Fall ist, dass Körperliches Unkörperliches affiziert, dann gilt:
Wenn die Seele kein Körper ist, dann affiziert der Körper nicht die Seele.
PB-Fall_2:Wenn es nicht der Fall ist, dass Unkörperliches Körperliches affiziert, dann gilt:
Wenn die Seele kein Körper ist, dann affiziert die Seele nicht den Körper.

„Die Seele ist kein Körper“ ist dabei eine abkürzende Redeweise für „Es ist nicht der Fall, dass die Seele ein Körper ist“. Mit modus ponens (Wenn p, dann q, nun aber p; also q) folgt aus Z2-Fall_1 und PB-Fall_1:

Z3-Fall_1: Wenn die Seele kein Körper ist, dann affiziert der Körper nicht die Seele.

Und aus Z2-Fall_2 und PB-Fall_2 folgt mit modus ponens:

Z3-Fall_2: Wenn die Seele kein Körper ist, dann affiziert die Seele nicht den Körper.

Nun können wir mit P2-Fall_1 und P2-Fall_2 arbeiten. Warum? Ein modus tollens hat die Form:

Wenn p, dann q; nun aber nicht q; also nicht p.

Mit Einsetzung erhält man die folgende Variante des modus tollens:

Wenn nicht r, dann nicht s; nun aber nicht nicht s; also nicht nicht r.

Mit dem Gesetz der doppelten Negation, das die Stoiker akzeptierten, kürzt sich das zu:

Wenn nicht r, dann nicht s; nun aber s; also r.

Für r lässt sich lesen „Die Seele ist ein Körper“. Für Fall 1 lesen wir s als „Die Seele affiziert den Körper“. Mit der gerade beschriebenen Variante des modus tollens kann man deshalb aus Z3-Fall_1 und P2-Fall_1 schließen auf die Konklusion:

K(onklusion): Die Seele ist ein Körper.

Für Fall 2 lesen wir s als „Der Körper affiziert die Seele.“ Für Fall 2 ergibt sich mit der modus tollens-Variante die Konklusion aus Z3-Fall_2 und P2-Fall_2.

Wo sind die schönen Beispiele? Wo wird zum Beispiel das Wort „zerschnitten“ aus dem Text berücksichtigt? Wo geht es ums Erröten? Ein deduktiv gültiges Argument, das Stichhaltigkeit beansprucht, besteht oft nicht nur aus den Prämissen und der Konklusion, sondern enthält auch Text, der die Wahrheit der Prämissen motivieren soll. Denn ein Argument ist ja gerade dann stichhaltig, wenn es deduktiv gültig ist und alle seine Prämissen wahr sind. Man kann es bei Rekonstruktion 1 belassen und sagen: Die Beispiele motivieren die Wahrheit der jeweils zweiten Prämisse. Sie sind sozusagen die Muskeln am Argument-Skelett. P2-Fall_1 wird durch zwei Punkte motiviert:

M1-Fall_1: Wenn der Körper krank ist, leidet die Seele.

M2-Fall_1: Wenn der Körper verletzt ist, leidet die Seele.

Und P2-Fall_2 wird ebenfalls durch zwei Punkte motiviert:

M1-Fall_2: Wenn die Seele sich schämt, errötet der Körper.

M2-Fall_2: Wenn die Seele sich fürchtet, wird der Körper blass.

Das kann man so sehen. Aber es ist doch unbefriedigend, die Beispiele nicht mit in die Rekonstruktion des Arguments einzubeziehen. Wie man das doch tun kann, zeigt...

Rekonstruktion 2

Kleanthes unterscheidet ihr zufolge vier Fälle.

Fall 1:Der Körper affiziert die Seele.
Unterfall 1a:Wenn der Körper krank ist, leidet die Seele. (= M1-Fall_1)
Unterfall 1b:Wenn der Körper verletzt ist, leidet die Seele. (= M2-Fall_1)
Fall 2:Die Seele affiziert den Körper.
Unterfall 2a:Wenn die Seele sich schämt, errötet der Körper. (= M1-Fall_2)
Unterfall 2b:Wenn die Seele sich fürchtet, wird der Körper blass. (= M2-Fall_2)

Der Text enthält vier Argumente. Da die beiden Unterfälle zu Fall 1 und die beiden Unterfälle zu Fall 2 völlig parallel verlaufen, genügt es, je einen davon zu betrachten, zum Beispiel das Argument mit M2-Fall_1 (Verletzung) und das mit M1-Fall_2 (Erröten). Zunächst läuft alles wie gehabt. Das Argument mit M2-Fall_1 ist bis einschließlich Z3-Fall_1 identisch mit dem Argument für Fall 1 in Rekonstruktion 1. Das Argument mit M1-Fall_2 ist bis einschließlich Z3-Fall_2 identisch mit dem Argument für Fall 2 in Rekonstruktion 1. Nur werden im Argument mit M2-Fall_1 zwei neue Prämissen eingeführt:

PB-M2-Fall_1:Wenn, wenn der Körper verletzt ist, die Seele leidet,
dann affiziert der Körper die Seele.
M2-Fall_1:Wenn der Körper verletzt ist, leidet die Seele.

Daraus wird mit modus ponens auf P2-Fall_1 von Rekonstruktion 1 geschlossen. Sie hat also jetzt den Status einer Zwischenkonklusion:

Z4-M2-Fall_1: Der Körper affiziert die Seele.

Aus Z4-M2-Fall_1 und Z3-Fall_1 folgt mit der modus tollens-Variante die Konklusion. Entsprechend werden im Argument mit M1-Fall_2 zwei neue Prämissen eingeführt:

PB-M1-Fall_2:Wenn, wenn die Seele sich schämt, der Körper errötet,
dann affiziert die Seele den Körper.
M1-Fall_2:Wenn die Seele sich schämt, errötet der Körper.

Wieder wird mit modus ponens auf P2-Fall_2 von Rekonstruktion 1 geschlossen. Sie hat also jetzt den Status einer Zwischenkonklusion:

Z4-M1-Fall_2: Die Seele affiziert den Körper.

Aus Z4-M1-Fall_2 und Z3-Fall_2 folgt mit der modus tollens-Variante die Konklusion.

Zum Überblick ist es gut, sich noch einmal das Argument mit M2-Fall_1 in voller Länge vor Augen zu führen:

P1:Weder affiziert Körperliches Unkörperliches
noch affiziert Unkörperliches Körperliches.
Z1:Es ist nicht der Fall, dass Körperliches Unkörperliches affiziert;
und es ist nicht der Fall, dass Unkörperliches Körperliches affiziert. (aus P1)
Z2-Fall_1:Es ist nicht der Fall, dass Körperliches Unkörperliches affiziert. (aus Z1)
PB-1:Wenn es nicht der Fall ist, dass Körperliches Unkörperliches affiziert,
dann gilt: Wenn die Seele kein Körper ist, dann affiziert der Körper nicht die Seele.
Z3-Fall_1:Wenn die Seele kein Körper ist, dann affiziert der Körper nicht die Seele. (aus Z2-Fall_1 und PB-1 mit modus ponens)
PB-M2-Fall_1:Wenn, wenn der Körper verletzt ist, die Seele leidet,
dann affiziert der Körper die Seele.
M2-Fall_1:Wenn der Körper verletzt ist, leidet die Seele.
Z4-M2-Fall_1:Der Körper affiziert die Seele.
(aus PB-M2-Fall_1 und M2-Fall_1 mit modus ponens)
Konklusion:Die Seele ist ein Körper.
(aus Z3-Fall_1 und Z4-M2-Fall_1 mit modus tollens-Variante)

Kommentar

Beide Rekonstruktionen bedienen sich aussagenlogischer Schlussformen, die die Stoiker akzeptieren und die auch in der klassischen Aussagenlogik gelten. Die Rekonstruktion ist deduktiv gültig.

Man darf für beide Rekonstruktionen unterstellen, dass Kleanthes alle Prämissen akzeptiert hat, also der Ansicht war, ein stichhaltiges Argument vorzubringen. Es ist für beide Rekonstruktionen nicht offensichtlich absurd, alle Prämissen für wahr zu halten. Dennoch ist es interessant zu sehen, wer die Wahrheit welcher Prämisse bestreiten und damit die Stichhaltigkeit des Argumentes angreifen könnte.

1) Ein Anhänger von Platon (427-347 v. Chr.) oder ein Anhänger von René Descartes (1596-1650) wird P1 ablehnen: Psychophysische Interaktion ist seiner Ansicht nach auch bei immaterieller Seele möglich. Unkörperliches und Körperliches können doch interagieren.

2) Ein Anhänger von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) wird in der ersten Rekonstruktion die jeweils zweite Prämisse ablehnen, also P2-Fall_1 und P2-Fall_2. In der zweiten Rekonstruktion wird er die Brückenprämissen für die Unterfälle ablehnen, also zum Beispiel PB-M1-Fall_2 und PB-M2-Fall_1. Denn Leibniz vertrat einen psycho-physischen Parallelismus. Er hätte gesagt: Es ist zwar so, dass der Körper rot wird, wenn die Seele sich schämt. Aber das heißt noch lange nicht, dass die Seele den Körper affiziert. Und: Es ist zwar so, dass die Seele Schmerzen spürt, wenn der Körper verletzt wird. Aber das heißt nicht, dass der Körper die Seele affiziert. Es läuft einfach jeweils beides parallel (prästabilierte Harmonie). Es ist zu vermuten, dass ein Leibnizianer Rekonstruktion 2 besonders schätzt, weil sie es ihm erlaubt, besonders genau zu sagen, was er bestreitet.

3) Die Stoiker bejahten die Existenz der Seele. Sie hielten sie für eine Wolke aus feiner Materie. Was tut jemand, der nicht an die Existenz der Seele glaubt? Für Rekonstruktion 1 wird er die jeweils zweiten Prämissen bestreiten also P2-Fall_1 und P2-Fall_2: Es ist nicht der Fall, dass der Körper die Seele affiziert, weil es gar keine Seele gibt. Und es ist nicht der Fall, dass die Seele den Körper affiziert, weil es keine Seele gibt. Mit Rekonstruktion 2 ist es etwas komplizierter. Im Argument mit M2-Fall_1 wird er genau M2-Fall_1 ablehnen. Denn für den einschlägigen Fall, dass der Körper verletzt ist, ist er gerade nicht der Meinung, dass die Seele leidet, weil er meint, dass es keine Seele gibt. Im Argument mit M1-Fall_2 wird er hingegen M1-Fall_2 zugeben: Den Satz „Die Seele schämt sich“ hält er ja für falsch, weil es keine Seele gibt; deshalb wird das (hier einschlägige) materiale Konditional „Wenn die Seele sich schämt, errötet der Körper“ wahr. Aber gerade deshalb wird er PB-M1-Fall_2 ablehnen: Er hält zwar deren Antezedens („Wenn“-Teil), nämlich M1-Fall_2 („Wenn die Seele sich schämt, errötet der Körper“) für wahr, ihr Sukzedens („Dann“-Teil), „Die Seele affiziert den Körper“ aber für falsch.

Formale Detailanalyse

Beide Rekonstruktionen bedienen sich der klassischen Aussagenlogik.

Rekonstruktion 1

Abkürzungsverzeichnis für Fall 1 (Körper affiziert Seele):

p: Unkörperliches affiziert Körperliches.
q: Körperliches affiziert Unkörperliches.
r: Der Körper affiziert die Seele.
r*: Die Seele affiziert den Körper.
s: Die Seele ist ein Körper.

Rekonstruktion 1, Fall 1

1¬(pq)\neg (p \lor q)Prämisse („weder ... noch“)P1
2¬p¬q\neg p \land \neg q1 De MorganZ1
3¬q\neg q2 aussagenlogischZ2-Fall_1
4¬q(¬s¬r)\neg q \to (\neg s \to \neg r)(Brücken-)PrämissePB-1
5¬s¬r\neg s \to \neg r3,4 modus ponensZ3-Fall_1
6rrPrämisseP2-Fall_1
7ss5,6 modus tollens-VarianteK

Rekonstruktion 1, Fall 2

1¬(pq)\neg (p \land q)Prämisse („weder ... noch“)P1
2¬p¬q\neg p \land \neg q1 De MorganZ1
3¬p\neg p2 aussagenlogischZ2-Fall_1
4¬p(¬s¬r\*)\neg p \to (\neg s \to \neg r\*)(Brücken-)PrämissePB-1
5¬s¬r\*\neg s \to \neg r\*3,4 modus ponensZ3-Fall_1
6r\*r\*PrämisseP2-Fall_1
7ss5,6 modus tollens-VarianteK

Rekonstruktion 2, der Fall mit M2-Fall_1

Erweiterung des Abkürzungsverzeichnisses:

v: Der Körper ist verletzt.
l: Die Seele leidet

1¬(pq)\neg (p \lor q)Prämisse („weder ... noch“)P1
2¬p¬q\neg p \land \neg q1 De MorganZ1
3¬q\neg q2 aussagenlogischZ2-Fall_1
4¬q(¬s¬r)\neg q \to (\neg s \to \neg r)(Brücken-)PrämissePB-1
5¬s¬r\neg s \to \neg r3,4 modus ponensZ3-Fall_1
6vlv \to lPrämisseM2-Fall_1
7(vl)r(v \to l) \to r(Brücken-)PrämisseBP-M2-Fall_1
8rr6,7 modus ponensZ4-M2-Fall_1
9ss5,6 modus tollens-VarianteK

Literaturangaben

  • Arnim, Hans von (1964) [1905]: Stoicorum Veterum Fragmenta. Bd. I. Stuttgart: Teubner.
  • Anthony A. Long/David N. Sedley (1987): The Hellenistic Philosophers. Cambridge: Cambridge University Press.
  • Niko Strobach (2019), Einführung in die Logik. WBG: Darmstadt.

· 11 Minuten Lesezeit
Als PDF herunterladen
Die Philosophen der älteren Stoa hatten eine Aussagenlogik, die der heutigen klassischen Aussagenlogik recht ähnlich ist (einführend: Strobach 2019, 44-49). Sie orientierten sich beim Argumentieren an dieser Logik, was zu Argumenten von großer Klarheit führte. Von einem der frühesten Stoiker, Chrysipp (ca. 280 – ca. 208 v. Chr.), ist ein bemerkenswertes Argument für eine Konklusion überliefert, welche die Stoiker selbst als These vertraten: Manche Tiere (außer dem Menschen) sind zu logischem Denken in der Lage. Das Argument ist bis zum heutigen Tag systematisch bedeutend, indem es zum Nachdenken über die Frage anregt, ob, und falls ja, wie Tiere denken können (Perler/Wild 2005).

Bibliographische Angaben

Das Argument des Chrysipp über den logisch schließenden Hund findet sich als Fragment 36E in Long/Sedley (1987) sowie in Hülser (1987). Es ist überliefert beim antiken Skeptiker Sextus Empiricus (Grundriß der pyrrhonischen Skepsis, I 69). Hier verwendete Übersetzung: Malte Hossenfelder. Auslassungen und Ergänzungen in eckigen Klammern: Niko Strobach. Auf eine Wiedergabe des griechischen Originals wird verzichtet.

Textstelle

Die Stelle lautet:

Nach Chrysipp [...] hat der Hund sogar an der vielgepriesenen Dialektik teil. Jedenfalls behauptet Chrysipp, der Hund wende das fünfte mehrgliedrige unbewiesene Argument an, wenn er an einen Dreiweg kommt und nach dem Spüren auf den zwei Wegen, die das Wild nicht entlang gelaufen sei, sofort den dritten entlang stürme, ohne hier überhaupt gespürt zu haben. Er schließe nämlich [...] dem Sinne nach (dynámei) folgendermaßen: „Das Wild ist entweder hier oder hier oder hier entlang gelaufen. Weder aber hier noch hier. Also hier.“

Das griechische Äquivalent zu „Hund“ („kyôn“) findet sich zwar nicht an der Textstelle selbst, kann aber sicher ergänzt werden, da ihr Kontext eine Passage über die Fähigkeiten von Hunden ist.

Argumentrekonstruktion

Das Argument hat die Struktur eines doppelten modus ponens. Der modus ponens ist eine Schlussform, welche die Stoiker akzeptierten: Wenn p, dann q; nun aber p; also q.

  • P1: Wenn es einen Hund gibt, der einen disjunktiven modus tollens mit drei Fällen anwendet, dann gibt es wenigstens einen Hund, der zu logischem Denken in der Lage ist (er „nimmt an der vielgepriesenen Dialektik teil“).
  • P2: Wenn es einen (Jagd-) Hund gibt, der an einer dreifachen Weggabelung, nachdem er in zwei Wege geschnüffelt hat, die das verfolgte Tier nicht genommen hat, ohne weiteres Schnüffeln in den dritten Weg läuft, dann gibt es einen Hund, der den disjunktiven modus tollens mit drei Fällen (Entweder p oder q oder r; nun aber weder p noch q; also r) anwendet.
  • P3: Es gibt einen Hund, der an einer dreifachen Weggabelung, nachdem er in zwei Wege geschnüffelt hat, die das verfolgte Tier nicht genommen hat, ohne weiteres Schnüffeln in den dritten Weg läuft.
  • Z1: Es gibt einen Hund, der einen disjunktiven modus tollens mit drei Fällen anwendet. (aus P2 und P3 mit modus ponens)
  • K: Es gibt es ist wenigstens einen Hund, der zu logischem Denken in der Lage ist. (aus P1 und Z1 mit modus ponens)

Kommentar

Die Rekonstruktion bedient sich einer aussagenlogischen Schlussformel, die die Stoiker akzeptierten und die auch in der klassischen Aussagenlogik gilt. Die Rekonstruktion ist deduktiv gültig. Ist sie auch stichhaltig? Dafür müssten alle Prämissen wahr sein. Chrysipp hat sie offenbar für wahr gehalten. Aber sind sie das? Es ist sinnvoll, die Prämissen in umgekehrter Reihenfolge zu betrachten.

P3 ist eine empirische Prämisse. Um ihre Wahrheit zu etablieren, muss man einen Hund finden, der das in P3 beschriebene Verhalten auch wirklich an den Tag legt. Dabei muss man Beobachtungsfehler sorgfältig vermeiden. Sieht man (am besten, wenn man die Aufnahme eines Experiments in Zeitlupe ansieht) genau, dass der Hund in die ersten beiden Wege schnüffelt? Dass er in den dritten nicht hineinschnüffelt? Man muss sich davor hüten, P3 einfach zu glauben, weil man das Vorurteil hat, dass Hunde viel können. Chrysipp formuliert P3 vorbildlich: Es ergibt sich aus seiner Beschreibung genau, wie ein Experiment zum Test von P3 aussehen würde. Die Antwort auf die Frage, ob P3 wahr ist, lautet also: Schauen wir!

Übrigens mag man sich fragen, ob die oben vorgenommene Rekonstruktion angemessen ist, wenn die Wahrheit von P3 nur das beschriebene Verhalten eines einzigen Hundes verlangt. Soll für das, was Chrysipp behauptet, bereits ausreichen, dass ein Hund das beschriebene Verhalten einmalig zeigt, oder soll wenigstens ein Hund dies üblicherweise tun? Will Chrysipp nicht etwas über arttypisches Verhalten von Hunden sagen? Dann sollte man das Experiment wohl mit vielen Hunden machen. Man mag deshalb eine formal ganz parallele Rekonstruktion erwägen, in der das Gegenstück zu P3 lautet:

  • P3P3': Hunde, die an einer dreifachen Weggabelung, nachdem sie in zwei Wege geschnüffelt haben, die ein verfolgtes Tier nicht genommen hat, laufen (art-)typischerweise ohne weiteres Schnüffeln in den dritten Weg.

Freilich müsste man dann sehr genau sagen, unter welchen Bedingungen man die Wahrheit von P3P3' für empirisch nachgewiesen oder aber widerlegt hält. (Wie viele Hunde testet man? Wie viele Ausreißer sind für arttypisches Verhalten erlaubt?)

P2 scheint ein klarer Fall zu sein. Aber auch hier ist größte methodische und begriffliche Vorsicht angebracht. Angenommen, P3 ist wahr. Können wir dem beobachteten Verhalten wirklich ohne weiteres entnehmen, dass der Hund den disjunktiven modus tollens mit drei Fällen angewendet hat? Ist das vielleicht nur eine Hypothese von uns, die sein Verhalten gut erklärt? Wieviel, und was, muss dem Hund durch den Kopf gehen, damit wir von „anwenden“ sprechen? Was haben wir damit gemeint? Es gibt einen Hinweis im Originaltext darauf, dass Chrysipp dieses Problem gesehen hat. Er schreibt vorsichtig, der Hund schließe dynámei wie beschrieben. Das Wort „dynámei“ ist an dieser Stelle schwer zu übersetzten. Hossenfelder übersetzt „dem Sinne nach“. Bury übersetzt „implicitly“. Die Antwort auf die Frage, ob P2 wahr ist, lautet also: Das hängt von einer guten Theorie über Hunde ab.

P1 scheint über jeden Zweifel erhaben. Doch auch hier kann man einen Moment zögern. Damit wir dem Hund die Fähigkeit zu logischem Denken attestieren, sollte der disjunktive modus tollens mit drei Fällen lieber kein Fehlschluss sein. Fähigkeit zum logischen Denken ist ein normatives Konzept. Der Hund soll es richtig machen. P1 ist nur dann wahr, wenn der disjunktive modus tollens mit drei Fällen ein gültiger Schluss ist. Die Stoiker haben den disjunktiven modus tollens mit n Fällen (n \geq 2) für so offensichtlich gültig gehalten, dass sie ihm den Status eines Axioms gegeben haben, das man nicht weiter begründet. Das ist mit „fünftes mehrgliedriges unbewiesenes Argument“ gemeint (sozusagen: „Axiom No. 5“). Aber hatten sie damit Recht? Das ist ein echtes Problem, selbst wenn man heutige nichtklassische Logiken ausklammert – was hiermit geschehen sei. Es fragt sich: Lässt sich ein disjunktiver modus tollens mit n Fällen immer in einen gültigen Schluss der klassischen Aussagenlogik übersetzen? Diese Frage wird im zweiten Teil des Abschnitts „Formale Detailanalyse“ diskutiert (er erfordert starke Nerven und kann übergangen werden). Die Antwort wird „ja“ lauten. Das etabliert die Wahrheit von P1 unter Voraussetzung der klassischen Aussagenlogik. Aber die Übersetzung wird schwieriger sein, als man zunächst meint.

Formale Detailanalyse

Das Hauptargument lässt sich leicht mit Mitteln der klassischen Aussagenlogik als deduktiv gültiges Argument formalisieren:

Abkürzungsverzeichnis

  • p: Es gibt einen Hund, der an einer dreifachen Weggabelung, nachdem er in zwei Wege geschnüffelt hat, die das verfolgte Tier nicht genommen hat, ohne weiteres Schnüffeln in den dritten Weg läuft.
  • q: Es gibt einen Hund, der einen disjunktiven modus tollens mit drei Fällen anwendet.
  • r: Es gibt es ist einen Hund, der zu logischem Denken in der Lage ist.

Argument

1q \to rPrämisseP1
2p \to qPrämisseP2
3pPrämisseP3
4q2,3 modus ponensZ1
5r1,4 modus ponensK

Bei der Diskussion der Wahrheit von P1 hat sich die folgende Frage ergeben: Lässt sich ein disjunktiver modus tollens mit n Fällen (n \geq 2) immer in einen gültigen Schluss mit Formeln der klassischen Aussagenlogik übersetzen? Um die Frage zu beantworten, muss man zunächst scharfstellen, was der disjunktive modus tollens mit n Fällen (n \geq 2) genau ist. Er besteht aus einer disjunktiven Prämisse mit n Fällen und n – 1 weiteren Prämissen, in denen alle Fälle aus der disjunktiven Prämisse bis auf einen ausgeschlossen werden, der die Konklusion ist. Was sind die Wahrheitsbedingungen einer disjunktiven Prämisse in der Logik der Stoiker? Darüber gibt uns das folgende Fragment zur stoischen Logik Auskunft (Long/Sedley (1987), 35E):

[Für das, was wir auf Latein] disiunctum nennen [...gilt:] Von all den [Sätzen], die getrennt werden, muss genau einer wahr sein, die übrigen falsch.“

Die Junktoren der klassischen Aussagenlogik sind, abgesehen vom einstelligen Negator, zweistellige Junktoren. Man wird daher zunächst nach einer Übersetzung für den Spezialfall des disjunktiven modus tollens mit zwei Fällen suchen. Hier gibt es zwei Kandidatinnen. In einem Fall wird das Zeichen \lor verwendet, das als Zeichen für eine inklusive „Oder“-Verbindung eingeführt ist, im anderen Fall das Zeichen \mathrel{\nabla}, das als Zeichen für eine exklusive „Oder“-Verbindung stehen soll. Das metasprachliche Zeichen \models drückt aus, dass, was rechts davon steht, aus dem folgt, was links davon steht. Die Kandidatinnen für eine Übersetzung sind:

(1) pq,¬pqp \lor q, \neg p \models q
(2) pq,¬pqp \mathrel{\nabla} q, \neg p \models q

(1) und (2) sind zwar beides gültige Schlüsse der klassischen Aussagenlogik. Man kann das mit einem üblichen Verfahren, zum Beispiel der Tableau-Methode, leicht zeigen. Aber sind beide gleich gute Übersetzungen des disjunktiven modus tollens mit zwei Fällen? Nein, (2) ist besser. Denn die Wahrheitsbedingungen von pq\text{„} p \lor q \text{“} in (1) stimmen nicht mit denen der stoischen disjunktiven Prämisse mit zwei Fällen überein. pq\text{„} p \lor q \text{“} wird auch dann wahr, wenn „p“ und „q“ beide wahr sind. Die von pq\text{„} p \mathrel{\nabla} q \text{“} tun dies. Nachdem das geklärt ist, meint man leicht, eine angemessene Übersetzung des disjunktiven modus tollens mit drei Fällen zu haben, der sich auf n Fälle verallgemeinern lässt:

(3) (pq)r,¬p,¬qr(p \mathrel{\nabla} q) \mathrel{\nabla} r, \neg p, \neg q \models r

Das ist zwar wiederum ein gültiger Schluss der klassischen Aussagenlogik (wie sich wieder mit einem üblichen Verfahren leicht zeigen lässt – dasselbe gilt für \text{„}\nabla\text{“} statt \text{„} \mathord{\lor} \text{“} und auch, wenn man anders klammert). Aber überraschenderweise hat (3) als Übersetzung des disjunktiven modus tollens mit drei Fällen dasselbe Problem wie (1): Wenn „p“, „q“ und „r“ alle wahr sind, ist (pq)r\text{„} (p \mathrel{\nabla} q) \mathrel{\nabla}r \text{“} wahr – was nicht zur stoischen Semantik für disjunktive Prämissen passt. Mit zweimal \text{„}\mathord{\lor}\text{“} hat man das Problem erst recht. Was mit der disjunktiven Prämisse mit drei Fällen ausgedrückt werden soll, ist komplizierter. Der Hund jagt ein Kaninchen, nicht ein Photon. Ein Kaninchen nimmt nur einen Weg auf einmal. Die Disjunkte der stoischen disjunktiven Prämisse entsprechen diesem Stück Weltwissen:

  • „eines wahr, die übrigen falsch“.
  • p¬q¬r¬pq¬r¬p¬qrp \land \neg q \land \neg r\hspace{10mm}\neg p \land q \land \neg r\hspace{10mm}\neg p \land \neg q \land r

Womit sollte man die Disjunkte verbinden? In Frage kommen \mathrel{\nabla} und \lor:

(4) ((p¬q¬r)(¬pq¬r))(¬p¬qr)((p \land \neg q \land \neg r) \mathrel{\nabla} (\neg p \land q \land \neg r)) \mathrel{\nabla} (\neg p \land \neg q \land r)
(5) ((p¬q¬r)(¬pq¬r))(¬p¬qr)((p \land \neg q \land \neg r) \lor (\neg p \land q \land \neg r)) \lor (\neg p \land \neg q \land r)

Beide Varianten sind als Übersetzungen der disjunktiven Prämisse mit drei Fällen gleich gut: Sie werden genau in den drei Fällen wahr, die man auszeichnen möchte: nur p, nur q, nur r. Und die Schlüsse? Auch hier ist beides gültig (um sich zu überzeugen, sind sogar Wahrheitswerttabellen mal nützlich):

(6) ((p¬q¬r)(¬pq¬r))(¬p¬qr),¬p,¬qr((p \land \neg q \land \neg r) \mathrel{\nabla} (\neg p \land q \land \neg r)) \mathrel{\nabla} (\neg p \land \neg q \land r), \neg p, \neg q \models r
(7) ((p¬q¬r)(¬pq¬r))(¬p¬qr),¬p,¬qr((p \land \neg q \land \neg r) \lor (\neg p \land q \land \neg r)) \lor (\neg p \land \neg q \land r), \neg p, \neg q \models r

Mit nur zwei Fällen stimmt’s auch. Und mit n Fällen. Es bietet sich daher an, eine n-stellige stoische Disjunktion mit der folgenden Regel für eine abkürzende Notation zu simulieren:

(Def. n)nα1αn\mathrel{\nabla}^n) \ulcorner\mathrel{\nabla}^n \alpha_1 \ldots \alpha_n\urcorner kürzt ab:
(α1¬α2¬αn)(¬α1¬αn1αn)\ulcorner (\alpha_1\land \neg\alpha_2 \land \ldots \land \neg\alpha_n) \lor \ldots \lor (\neg\alpha_1 \land \ldots \neg\alpha_{n-1} \land \alpha_n)\urcorner

Nun lässt sich als gültiges Schlussschema der klassischen Aussagenlogik festhalten:

(8) nα1αn,¬α1,,¬αn1αn\mathrel{\nabla}^n \alpha_1 \ldots \alpha_n, \neg\alpha_1, \ldots, \neg\alpha_{n-1} \models\alpha_n

Ein Spezialfall dieses Schemas ist:

(9) 3pqr,¬p,¬qr\mathrel{\nabla}^3 p q r, \neg p, \neg q \models r

Das rechtfertigt den stoischen disjunktiven modus tollens mit drei Fällen vom Standpunkt der klassischen Aussagenlogik und bietet eine gute Motivation für die Wahrheit von P1. Für den Fall, dass P2 und P3 wahr sind, kann man festhalten: Ganz schön schlau, der Hund.

Literaturangaben

  • Karlheinz Hülser (1987): Die Fragmente zur Dialektik der Stoiker. 4 Bde. Stuttgart-Bad Cannstadt 1987 f.
  • Anthony A. Long/David N. Sedley (1987): The Hellenistic Philosophers. Cambridge: Cambridge University Press.
  • Sextus Empiricus (1968): Grundriß der pyrrhonischen Skepsis. Eingeleitet und übersetzt von Malte Hossenfelder. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
  • Sextus Empiricus (1933): Outlines of Pyrrhonism. Übersetzt von R.G. Bury. Cambridge/MA: Harvard University Press.
  • Niko Strobach (2019), Einführung in die Logik. WBG: Darmstadt.