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4 Rekonstruktionen getaggt mit "Philosophie des Geistes"

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Die Frage, worin Emotionen essenziell bestehen, ist von hoher Bedeutung für die Philosophie des Geistes. William James‘ Theorie gibt eine bestechend simple Antwort auf diese Frage: Emotionen bestehen aus nichts weiter als Gefühlen von Körperreaktionen, wie zum Beispiel den Gefühlen von steigendem Herzschlag und rauschendem Blut im Fall von Angst. Hier wird James‘ Subtraktions-Argument rekonstruiert, das sein zentrales Argument für seine Körpergefühlstheorie der Emotionen darstellt. Sowohl James‘ Theorie als auch das Substraktions-Argument haben weitreichenden und fortdauernden Einfluss auf die philosophische und die psychologische Forschung zu Emotionen ausgeübt.

Bibliographische Angaben

William James, "What is an Emotion?", Mind 9/34 (1884), 188-205. [PhilPapers] [DOI]

Textstelle

Ich fahre nun damit fort, den entscheidenden Punkt meiner gesamten Theorie hervorzuheben, nämlich diesen: Wenn wir uns eine starke Emotion vorstellen und dann versuchen, aus unserem Bewusstsein davon alle Gefühle ihrer charakteristischen körperlichen Symptome zu abstrahieren, stellen wir fest, dass nichts übrig bleibt, kein "Bewusstseins-Stoff", aus dem die Emotion konstituiert werden könnte, und dass nur ein kalter und neutraler Zustand intellektueller Wahrnehmung übrig bleibt. [...] Was für eine Art von Angstgefühl übrig bliebe, wenn weder das Gefühl eines beschleunigten Herzschlags noch einer flachen Atmung, weder zitternder Lippen noch geschwächter Glieder, weder einer Gänsehaut noch von Eingeweidebewegungen vorhanden wäre, ist völlig unmöglich zu denken. [...][D]ie Emotion ist nichts anderes als das Gefühl dieser [...] körperlichen Auswirkungen.

(nach James, a.a.O., S. 193 f. Übersetzung LD)

Argumentrekonstruktion

James‘ Argumentation lässt sich als ein Schluss von drei Prämissen (1, 2 und 4) auf die zu begründende Konklusion, die seine Körpergefühlstheorie der Emotionen ausdrückt, rekonstruieren.

  1. Wir können uns nicht vorstellen, dass Emotionen ohne Körpergefühle auftreten.
  2. Wenn wir uns nicht vorstellen können, dass F‘s ohne G‘s auftreten, dann ist G notwendig für F.
  3. Körpergefühle sind notwendig für Emotionen. (Zwischenkonklusion, folgt aus 1 und 2)
  4. Wenn Körpergefühle notwendig sind für Emotionen, dann sind Emotionen nichts weiter als Körpergefühle.

    1. Emotionen sind nichts weiter als Körpergefühle (Folgt aus 3 und 4).

Erläuterung

In der angegebenen Form ist James‘ Argument gültig. Die erste Prämisse artikuliert James‘ Gedanken, dass keine Emotion übrigbleibt, sobald wir Körpergefühle – wie die Gefühle des pochenden Herzschlags und des Zitterns, wenn wir uns fürchten – in der Vorstellung abziehen. Die zweite Prämisse basiert auf der Annahme, dass Unvorstellbarkeit von etwas – hier Emotion ohne Körpergefühle – Unmöglichkeit impliziert. Prämisse 3 besagt, dass Körpergefühle notwendig für Emotionen sind, lässt jedoch zu, dass nicht jede Emotion ein bestimmtes Körpergefühl verlangt, sondern verschiedene Arten von Körpergefühlen dieselbe Art von Emotion möglich machen können. Prämisse 4 besagt, dass wir aus der Tatsache, dass Körpergefühle notwendig für Emotionen sind, sogar schließen können, dass Emotionen sich in Körpergefühlen erschöpfen. Das heißt, es wird ausgeschlossen, dass Emotionen noch weitere unabhängige Bestandteile haben könnten. Eine mögliche Begründung für diese Prämisse ist eine Sparsamkeits-Überlegung: Wenn die Annahme weiterer Bestandteile von Emotionen neben Körpergefühlen nicht notwendig ist, vielleicht sollten wir dann ganz darauf verzichten, um eine möglichst einfache Theorie zu gewinnen? Aussage 5 drückt James‘ Theorie der Emotionen aus: Gemäß der Körpergefühlstheorie sind Emotionen einzig und allein Körpergefühle. Ich verstehe dies hier als Token-Identitätsthese, wonach jedes Vorkommnis einer Emotion mit Vorkommnissen einer bestimmten Reihe an Körpergefühlen identisch ist. Es wäre möglich, eine sogar noch stärkere Typen-Identitätsthese zu vertreten, wonach die Eigenschaft, eine bestimmte Emotion zu haben (z.B. Angst), mit der Eigenschaft identisch ist, bestimmte Körpergefühle zu haben (z.B. Zittern und laut pochendes Herz). Eine Herausforderung für die zweite Theorie wäre jedoch, dass dieselbe Art von Emotion (Angst) womöglich nicht immer von denselben Arten von Körpergefühlen begleitet wird.

Kritik

Obgleich James‘ „Subtraktions-Argument“ von vielen PhilosophInnen zustimmend aufgegriffen wurde, bietet es viel Angriffsfläche. Prämisse 1 kann mit Verweis auf Fälle von fast vollständig gelähmten Personen angegriffen werden, deren Vermögen zu Körpergefühlen weitreichend eingeschränkt ist und die dennoch über komplexe emotionale Vermögen verfügen (Cobos et al. 2002). Diese könnten Fälle von Emotionen ohne Körpergefühle darstellen. Zudem haben viele Philosophen berichtet, dass sie sehr wohl fähig seien, sich Emotionen vorzustellen, die nicht von Körpergefühlen begleitet werden (Goldie 2000, S. 52). Nicht nur das, sondern es existiert empirische Evidenz, dass philosophische Laien überwiegend der Auffassung sind, dass ihre Emotionen auch ohne Körpergefühle auftreten könnten (Díaz 2022). Eine abschließende Frage ist, ob Prämisse 1 und folglich James‘ Theorie sich auch auf sogenannte „kalte“ Emotionen wie Bewunderung, Nostalgie oder Neugierde erstreckt, die weniger direkt mit Körpergefühlen verknüpft zu sein scheinen. Die Wahrheit von Prämisse 2 hängt vor allem von der Frage ab, ob Unvorstellbarkeit einen hinreichenden Grund liefert, von Unmöglichkeit auszugehen (Chalmers 2002). Ein Kritiker könnte James vorwerfen, dasjenige zu begehen, was Daniel Dennett „des Philosophen grundlegendste[n] Fehler“ nannte: „ein Versagen der Vorstellungskraft für eine Einsicht in die Notwendigkeit zu halten“ (Dennett 1995, S. 175). Ein Szenario, das James‘ Annahme besonders bedroht, ist die Möglichkeit unbewusster Emotion. Falls es Emotionen geben kann, die nicht bewusst erlebt werden, scheint es plausibel zu sein, dass solche Emotionen existieren könnten, auch wenn wir sie uns nicht vorstellen können, zumindest nicht im Sinne eines imaginativen Vors-Innere-Auge-Rufens. Prämisse 4 verlangt ein Argument dafür, dass keine andere Eigenschaft als weiterer Bestandteil von Emotionen infrage kommt oder sogar notwendig ist, um die Vielfalt der Rollen, die Emotionen in unserem Leben spielen, zu erklären. Ironischerweise spricht James selbst davon, dass „ein kalter und neutraler Zustand intellektueller Wahrnehmung übrig bleibt“, wenn man Körpergefühle von Emotionen abzieht. Daher legt James‘ eigenes Gedankenexperiment nahe, dass Emotionen zusätzlich auch eine intellektuelle, Urteils-ähnliche Komponente aufweisen könnten. Diese Auffassung ist von James weitgehend außer Acht gelassen worden, war jedoch nachfolgend für die Emotionsforschung von hoher Bedeutung (Teroni 2023). Die vorhergehenden Überlegungen sind Herausforderungen für James‘ Theorie, werden allerdings bereits in James‘ ursprünglichem Aufsatz berührt und teils sogar direkt angesprochen.

Literaturangaben

David J. Chalmers, "Does conceivability entail possibility?", in Tamar Gendler und John Hawthorne (Hrsg.), Conceivability and Possibility, 145–200. Oxford 2002. Pilar Cobos, María Sánchez, Carmen Garcı́a, María Nieves Vera, und Jaime Vila, "Revisiting the James versus Cannon debate on emotion: startle and autonomic modulation in patients with spinal cord injuries", in Biological Psychology 61/3 (2002), 251–269. Daniel C. Dennett, Darwin’s Dangerous Idea: Evolution and the Meanings of Life, New York 1995. Rodrigo Díaz, "Emotions and the body. Testing the subtraction argument", in Philosophical Psychology 35/1 (2022), 47–65. Peter Goldie, The Emotions: A Philosophical Exploration. Oxford 2002. Fabrice Teroni, "Evaluative theories in psychology and philosophy of emotion", in Mind & Language, 38/1 (2023), 81–97.

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Die Philosophen der älteren Stoa hatten eine Aussagenlogik, die der heutigen klassischen Aussagenlogik recht ähnlich ist (einführend: Strobach 2019, 44-49). Sie orientierten sich beim Argumentieren an dieser Logik, was zu Argumenten von großer Klarheit führte. Von einem der frühesten Stoiker, Kleanthes (ca. 300 v. Chr.), ist eine bemerkenswerte Argumentation für eine Konklusion überliefert, welche die Stoiker selbst als These vertraten: Die Seele ist materiell. Die Argumentation ist bis zum heutigen Tag systematisch bedeutend: Kleanthes war offenbar der Ansicht, dass jeder, der seine These bestreitet, mit einem Problem der psychophysischen Interaktion konfrontiert ist, das unlösbar ist.

Bibliographische Angaben

Die Argumentation des Kleanthes ist auf Griechisch ediert als Fragment 518 in Band 1 der Fragmentsammlung Stoicorum Veterum Fragmenta (SVF) und als Fragment 45C in Long/Sedley (1987). Hier verwendete Übersetzung: Niko Strobach. Auf eine Wiedergabe des griechischen Originals wird verzichtet.

Textstelle

Der Text lautet:

Weder leidet Unkörperliches mit einem Körper mit,
noch ein Körper mit Unkörperlichem.
Die Seele leidet aber mit dem kranken oder zerschnittenen Körper mit;
ebenso der Körper mit der Seele:
wenn sie [= die Seele] sich schämt, wird er [= der Körper] rot;
wenn sie sich fürchtet, blass.
Ein Körper also ist die Seele.

Argumentrekonstruktion

Die sehr dicht formulierte Argumentation besteht aus mehreren parallel gebauten Argumenten. Im Folgenden sollen zwei Rekonstruktionen präsentiert werden. Die erste Rekonstruktion sieht zwei parallele Argumente. Die zweite Rekonstruktion, die die erste verfeinert, sieht sogar vier parallele Argumente. Wo im Griechischen „mitleiden“ („sympaschein“) steht, ist das weiter zu fassen, als es das deutsche Wort „leiden“ nahelegt. Entscheidend ist der kausale Einfluss. „A leidet mit B mit“ ist zu verstehen als „B affiziert A“.

Rekonstruktion 1

Kleanthes unterscheidet zwei Fälle.

Fall 1: Der Körper affiziert die Seele.

Fall 2: Die Seele affiziert den Körper.

Mit jedem der beiden Fälle wird ein Argument durchgeführt. Beide Male hat die erste Prämisse, P1, die Form „Weder p noch q“.

P1: Weder affiziert Körperliches Unkörperliches
noch affiziert Unkörperliches Körperliches.

„Weder p noch q“ ist aussagenlogisch äquivalent mit „Nicht p; und nicht q“ (De Morgan’sches Gesetz). Das ergibt eine erste Zwischenkonklusion:

Z1: Es ist nicht der Fall, dass Körperliches Unkörperliches affiziert;
und es ist nicht der Fall, dass Unkörperliches Körperliches affiziert. (aus P1)

Für Fall 1 ist entscheidend, dass aus Z1 aussagenlogisch folgt:

Z2-Fall_1: Es ist nicht der Fall, dass Körperliches Unkörperliches affiziert. (aus Z1)

Für Fall_2 ist entscheidend, dass aus Z1 aussagenlogisch folgt:

Z2-Fall_2: Es ist nicht der Fall, dass Unkörperliches Körperliches affiziert. (aus Z1)

Ab dieser Stelle wird es etwas knifflig. Man möchte am liebsten als nächstes sofort eine Prämisse P2-Fall_1 und eine Prämisse P2-Fall_2 ins Spiel bringen:

P2-Fall_1: Der Körper affiziert die Seele. (= „Die Seele leidet mit dem Körper mit.“)

P2-Fall_2: Die Seele affiziert den Körper. (= „Der Körper leidet mit der Seele mit.“)

Aber von der Seele war bisher noch gar nicht die Rede. Der Anschluss fehlt. Er muss durch zwei zu ergänzende Brückenprämissen, PB-1 und PB-2, hergestellt werden. Hier bieten sich an:

PB-Fall_1:Wenn es nicht der Fall ist, dass Körperliches Unkörperliches affiziert, dann gilt:
Wenn die Seele kein Körper ist, dann affiziert der Körper nicht die Seele.
PB-Fall_2:Wenn es nicht der Fall ist, dass Unkörperliches Körperliches affiziert, dann gilt:
Wenn die Seele kein Körper ist, dann affiziert die Seele nicht den Körper.

„Die Seele ist kein Körper“ ist dabei eine abkürzende Redeweise für „Es ist nicht der Fall, dass die Seele ein Körper ist“. Mit modus ponens (Wenn p, dann q, nun aber p; also q) folgt aus Z2-Fall_1 und PB-Fall_1:

Z3-Fall_1: Wenn die Seele kein Körper ist, dann affiziert der Körper nicht die Seele.

Und aus Z2-Fall_2 und PB-Fall_2 folgt mit modus ponens:

Z3-Fall_2: Wenn die Seele kein Körper ist, dann affiziert die Seele nicht den Körper.

Nun können wir mit P2-Fall_1 und P2-Fall_2 arbeiten. Warum? Ein modus tollens hat die Form:

Wenn p, dann q; nun aber nicht q; also nicht p.

Mit Einsetzung erhält man die folgende Variante des modus tollens:

Wenn nicht r, dann nicht s; nun aber nicht nicht s; also nicht nicht r.

Mit dem Gesetz der doppelten Negation, das die Stoiker akzeptierten, kürzt sich das zu:

Wenn nicht r, dann nicht s; nun aber s; also r.

Für r lässt sich lesen „Die Seele ist ein Körper“. Für Fall 1 lesen wir s als „Die Seele affiziert den Körper“. Mit der gerade beschriebenen Variante des modus tollens kann man deshalb aus Z3-Fall_1 und P2-Fall_1 schließen auf die Konklusion:

K(onklusion): Die Seele ist ein Körper.

Für Fall 2 lesen wir s als „Der Körper affiziert die Seele.“ Für Fall 2 ergibt sich mit der modus tollens-Variante die Konklusion aus Z3-Fall_2 und P2-Fall_2.

Wo sind die schönen Beispiele? Wo wird zum Beispiel das Wort „zerschnitten“ aus dem Text berücksichtigt? Wo geht es ums Erröten? Ein deduktiv gültiges Argument, das Stichhaltigkeit beansprucht, besteht oft nicht nur aus den Prämissen und der Konklusion, sondern enthält auch Text, der die Wahrheit der Prämissen motivieren soll. Denn ein Argument ist ja gerade dann stichhaltig, wenn es deduktiv gültig ist und alle seine Prämissen wahr sind. Man kann es bei Rekonstruktion 1 belassen und sagen: Die Beispiele motivieren die Wahrheit der jeweils zweiten Prämisse. Sie sind sozusagen die Muskeln am Argument-Skelett. P2-Fall_1 wird durch zwei Punkte motiviert:

M1-Fall_1: Wenn der Körper krank ist, leidet die Seele.

M2-Fall_1: Wenn der Körper verletzt ist, leidet die Seele.

Und P2-Fall_2 wird ebenfalls durch zwei Punkte motiviert:

M1-Fall_2: Wenn die Seele sich schämt, errötet der Körper.

M2-Fall_2: Wenn die Seele sich fürchtet, wird der Körper blass.

Das kann man so sehen. Aber es ist doch unbefriedigend, die Beispiele nicht mit in die Rekonstruktion des Arguments einzubeziehen. Wie man das doch tun kann, zeigt...

Rekonstruktion 2

Kleanthes unterscheidet ihr zufolge vier Fälle.

Fall 1:Der Körper affiziert die Seele.
Unterfall 1a:Wenn der Körper krank ist, leidet die Seele. (= M1-Fall_1)
Unterfall 1b:Wenn der Körper verletzt ist, leidet die Seele. (= M2-Fall_1)
Fall 2:Die Seele affiziert den Körper.
Unterfall 2a:Wenn die Seele sich schämt, errötet der Körper. (= M1-Fall_2)
Unterfall 2b:Wenn die Seele sich fürchtet, wird der Körper blass. (= M2-Fall_2)

Der Text enthält vier Argumente. Da die beiden Unterfälle zu Fall 1 und die beiden Unterfälle zu Fall 2 völlig parallel verlaufen, genügt es, je einen davon zu betrachten, zum Beispiel das Argument mit M2-Fall_1 (Verletzung) und das mit M1-Fall_2 (Erröten). Zunächst läuft alles wie gehabt. Das Argument mit M2-Fall_1 ist bis einschließlich Z3-Fall_1 identisch mit dem Argument für Fall 1 in Rekonstruktion 1. Das Argument mit M1-Fall_2 ist bis einschließlich Z3-Fall_2 identisch mit dem Argument für Fall 2 in Rekonstruktion 1. Nur werden im Argument mit M2-Fall_1 zwei neue Prämissen eingeführt:

PB-M2-Fall_1:Wenn, wenn der Körper verletzt ist, die Seele leidet,
dann affiziert der Körper die Seele.
M2-Fall_1:Wenn der Körper verletzt ist, leidet die Seele.

Daraus wird mit modus ponens auf P2-Fall_1 von Rekonstruktion 1 geschlossen. Sie hat also jetzt den Status einer Zwischenkonklusion:

Z4-M2-Fall_1: Der Körper affiziert die Seele.

Aus Z4-M2-Fall_1 und Z3-Fall_1 folgt mit der modus tollens-Variante die Konklusion. Entsprechend werden im Argument mit M1-Fall_2 zwei neue Prämissen eingeführt:

PB-M1-Fall_2:Wenn, wenn die Seele sich schämt, der Körper errötet,
dann affiziert die Seele den Körper.
M1-Fall_2:Wenn die Seele sich schämt, errötet der Körper.

Wieder wird mit modus ponens auf P2-Fall_2 von Rekonstruktion 1 geschlossen. Sie hat also jetzt den Status einer Zwischenkonklusion:

Z4-M1-Fall_2: Die Seele affiziert den Körper.

Aus Z4-M1-Fall_2 und Z3-Fall_2 folgt mit der modus tollens-Variante die Konklusion.

Zum Überblick ist es gut, sich noch einmal das Argument mit M2-Fall_1 in voller Länge vor Augen zu führen:

P1:Weder affiziert Körperliches Unkörperliches
noch affiziert Unkörperliches Körperliches.
Z1:Es ist nicht der Fall, dass Körperliches Unkörperliches affiziert;
und es ist nicht der Fall, dass Unkörperliches Körperliches affiziert. (aus P1)
Z2-Fall_1:Es ist nicht der Fall, dass Körperliches Unkörperliches affiziert. (aus Z1)
PB-1:Wenn es nicht der Fall ist, dass Körperliches Unkörperliches affiziert,
dann gilt: Wenn die Seele kein Körper ist, dann affiziert der Körper nicht die Seele.
Z3-Fall_1:Wenn die Seele kein Körper ist, dann affiziert der Körper nicht die Seele. (aus Z2-Fall_1 und PB-1 mit modus ponens)
PB-M2-Fall_1:Wenn, wenn der Körper verletzt ist, die Seele leidet,
dann affiziert der Körper die Seele.
M2-Fall_1:Wenn der Körper verletzt ist, leidet die Seele.
Z4-M2-Fall_1:Der Körper affiziert die Seele.
(aus PB-M2-Fall_1 und M2-Fall_1 mit modus ponens)
Konklusion:Die Seele ist ein Körper.
(aus Z3-Fall_1 und Z4-M2-Fall_1 mit modus tollens-Variante)

Kommentar

Beide Rekonstruktionen bedienen sich aussagenlogischer Schlussformen, die die Stoiker akzeptieren und die auch in der klassischen Aussagenlogik gelten. Die Rekonstruktion ist deduktiv gültig.

Man darf für beide Rekonstruktionen unterstellen, dass Kleanthes alle Prämissen akzeptiert hat, also der Ansicht war, ein stichhaltiges Argument vorzubringen. Es ist für beide Rekonstruktionen nicht offensichtlich absurd, alle Prämissen für wahr zu halten. Dennoch ist es interessant zu sehen, wer die Wahrheit welcher Prämisse bestreiten und damit die Stichhaltigkeit des Argumentes angreifen könnte.

1) Ein Anhänger von Platon (427-347 v. Chr.) oder ein Anhänger von René Descartes (1596-1650) wird P1 ablehnen: Psychophysische Interaktion ist seiner Ansicht nach auch bei immaterieller Seele möglich. Unkörperliches und Körperliches können doch interagieren.

2) Ein Anhänger von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) wird in der ersten Rekonstruktion die jeweils zweite Prämisse ablehnen, also P2-Fall_1 und P2-Fall_2. In der zweiten Rekonstruktion wird er die Brückenprämissen für die Unterfälle ablehnen, also zum Beispiel PB-M1-Fall_2 und PB-M2-Fall_1. Denn Leibniz vertrat einen psycho-physischen Parallelismus. Er hätte gesagt: Es ist zwar so, dass der Körper rot wird, wenn die Seele sich schämt. Aber das heißt noch lange nicht, dass die Seele den Körper affiziert. Und: Es ist zwar so, dass die Seele Schmerzen spürt, wenn der Körper verletzt wird. Aber das heißt nicht, dass der Körper die Seele affiziert. Es läuft einfach jeweils beides parallel (prästabilierte Harmonie). Es ist zu vermuten, dass ein Leibnizianer Rekonstruktion 2 besonders schätzt, weil sie es ihm erlaubt, besonders genau zu sagen, was er bestreitet.

3) Die Stoiker bejahten die Existenz der Seele. Sie hielten sie für eine Wolke aus feiner Materie. Was tut jemand, der nicht an die Existenz der Seele glaubt? Für Rekonstruktion 1 wird er die jeweils zweiten Prämissen bestreiten also P2-Fall_1 und P2-Fall_2: Es ist nicht der Fall, dass der Körper die Seele affiziert, weil es gar keine Seele gibt. Und es ist nicht der Fall, dass die Seele den Körper affiziert, weil es keine Seele gibt. Mit Rekonstruktion 2 ist es etwas komplizierter. Im Argument mit M2-Fall_1 wird er genau M2-Fall_1 ablehnen. Denn für den einschlägigen Fall, dass der Körper verletzt ist, ist er gerade nicht der Meinung, dass die Seele leidet, weil er meint, dass es keine Seele gibt. Im Argument mit M1-Fall_2 wird er hingegen M1-Fall_2 zugeben: Den Satz „Die Seele schämt sich“ hält er ja für falsch, weil es keine Seele gibt; deshalb wird das (hier einschlägige) materiale Konditional „Wenn die Seele sich schämt, errötet der Körper“ wahr. Aber gerade deshalb wird er PB-M1-Fall_2 ablehnen: Er hält zwar deren Antezedens („Wenn“-Teil), nämlich M1-Fall_2 („Wenn die Seele sich schämt, errötet der Körper“) für wahr, ihr Sukzedens („Dann“-Teil), „Die Seele affiziert den Körper“ aber für falsch.

Formale Detailanalyse

Beide Rekonstruktionen bedienen sich der klassischen Aussagenlogik.

Rekonstruktion 1

Abkürzungsverzeichnis für Fall 1 (Körper affiziert Seele):

p: Unkörperliches affiziert Körperliches.
q: Körperliches affiziert Unkörperliches.
r: Der Körper affiziert die Seele.
r*: Die Seele affiziert den Körper.
s: Die Seele ist ein Körper.

Rekonstruktion 1, Fall 1

1¬(pq)\neg (p \lor q)Prämisse („weder ... noch“)P1
2¬p¬q\neg p \land \neg q1 De MorganZ1
3¬q\neg q2 aussagenlogischZ2-Fall_1
4¬q(¬s¬r)\neg q \to (\neg s \to \neg r)(Brücken-)PrämissePB-1
5¬s¬r\neg s \to \neg r3,4 modus ponensZ3-Fall_1
6rrPrämisseP2-Fall_1
7ss5,6 modus tollens-VarianteK

Rekonstruktion 1, Fall 2

1¬(pq)\neg (p \land q)Prämisse („weder ... noch“)P1
2¬p¬q\neg p \land \neg q1 De MorganZ1
3¬p\neg p2 aussagenlogischZ2-Fall_1
4¬p(¬s¬r\*)\neg p \to (\neg s \to \neg r\*)(Brücken-)PrämissePB-1
5¬s¬r\*\neg s \to \neg r\*3,4 modus ponensZ3-Fall_1
6r\*r\*PrämisseP2-Fall_1
7ss5,6 modus tollens-VarianteK

Rekonstruktion 2, der Fall mit M2-Fall_1

Erweiterung des Abkürzungsverzeichnisses:

v: Der Körper ist verletzt.
l: Die Seele leidet

1¬(pq)\neg (p \lor q)Prämisse („weder ... noch“)P1
2¬p¬q\neg p \land \neg q1 De MorganZ1
3¬q\neg q2 aussagenlogischZ2-Fall_1
4¬q(¬s¬r)\neg q \to (\neg s \to \neg r)(Brücken-)PrämissePB-1
5¬s¬r\neg s \to \neg r3,4 modus ponensZ3-Fall_1
6vlv \to lPrämisseM2-Fall_1
7(vl)r(v \to l) \to r(Brücken-)PrämisseBP-M2-Fall_1
8rr6,7 modus ponensZ4-M2-Fall_1
9ss5,6 modus tollens-VarianteK

Literaturangaben

  • Arnim, Hans von (1964) [1905]: Stoicorum Veterum Fragmenta. Bd. I. Stuttgart: Teubner.
  • Anthony A. Long/David N. Sedley (1987): The Hellenistic Philosophers. Cambridge: Cambridge University Press.
  • Niko Strobach (2019), Einführung in die Logik. WBG: Darmstadt.

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Weil der australische Philosoph Frank Jackson der Hauptfigur einer kleinen Geschichte den Allerweltsnamen „Mary“ gegeben hat, ist das Argument, das diese Geschichte illustrieren soll, als Mary-Argument (oder, kürzer, Mary) bekannt. Es ist eines der berühmtesten Argumente in der Philosophie des Geistes (philosophy of mind) geworden, obwohl Jackson es selbst später skeptisch gesehen hat. Es ist ein Argument gegen eine Position, die den Namen „Physikalismus“ („physicalism“) trägt. Aus dem Argument geht nebenbei recht gut verständlich hervor, worin diese Position besteht.

Bibliographische Angaben

Frank Jackson, Journal of Philosophy, 83/5 (1986), 291-295 [PhilPapers] [DOI]

Textstelle

Jacksons Argument lautet:

„Mary is confined to a black-and-white room, is educated through black-and-white books and through lectures relayed on black-and-white television. In this way she learns everything there is to know about the physical nature of the world. She knows all the physical facts about us and our environment, in a wider sense of “physical” which includes everything in completed physics, chemistry and neurophysiology [...]. If physicalism is true, she knows all there is to know. […] It seems, however, that Mary does not know all there is to know. For when she is let out of the black-and-white room or given a color television, she will learn what it is like to see something red, say. This is rightly described as learning – she will not say ‘ho, hum.’ Hence, physicalism is false.”

Argumentrekonstruktion

Es scheint auf den ersten Blick so, dass das Mary-Argument ein ganz einfach gebautes Argument ist, nämlich ein so genannter modus tollens, kurz m.t.: Wenn p, dann q; nun aber nicht q; also nicht p.

Rekonstruktionsversuch

Prämisse 1: Wenn der Physikalismus wahr ist, weiß Mary alles, was es zu wissen gibt.
Prämisse 2: Mary weiß nicht alles, was es zu wissen gibt.
Konklusion: Der Physikalismus ist nicht wahr. (modus tollens aus P1, P2)

Der modus tollens wird für gewöhnlich als gültig anerkannt und ist auch ein gültiger Schluss der klassischen Aussagenlogik. Dieser erste Rekonstruktionsversuch fängt zwar schon wichtige Elemente des Textes ein. Aber er berücksichtigt einen Punkt nicht, der doch zum Kern des Arguments gehört: das Lernen. Es ist daher besser, eine etwas kompliziertere Rekonstruktion vorzunehmen, in der dieser Punkt berücksichtigt ist. In ihr ist der modus tollens kombiniert mit einem so genannten modus ponens, kurz m.p.: Wenn p, dann q; nun aber p; also q.

Rekonstruktion

Prämisse 1: Wenn der Physikalismus wahr ist, weiß Mary alles, was es zu wissen gibt.
Prämisse 2a: Wenn Mary etwas lernt, dann weiß Mary nicht alles, was es zu wissen gibt.
Prämisse 3: Mary lernt etwas.
Zwischenkonklusion Z: Mary weiß nicht alles, was es zu wissen gibt. (m.p. aus P2a, P3)
Konklusion: Der Physikalismus ist nicht wahr. (m.t. aus P1, Z)

Der modus ponens wird gewöhnlich ebenfalls als gültig anerkannt und ist auch ein gültiger Schluss der klassischen Aussagenlogik.

Kommentar

An der deduktiven Gültigkeit besteht kein Zweifel. Die Frage ist, ob das Argument auch stichhaltig ist. Das ist so, falls es nicht nur deduktiv gültig ist, sondern auch seine Prämissen wahr sind.

Um sich fragen zu können, ob die Prämissen wahr sind, muss man sie zunächst inhaltlich verstehen. Dafür muss man ungefähr wissen, was das Wort „Physikalismus“ bedeutet. Man kann das indirekt den ersten Sätzen des zitierten Textes entnehmen: Physikalismus ist die These, dass alles physikalisch ist. Etwas genauer gesagt: Physikalismus ist die These, dass alle Tatsachen (Fakten) physikalische Tatsachen sind. Daraus folgt: Wenn der Physikalismus wahr ist, dann kennt jemand, der alle physikalischen Tatsachen kennt, überhaupt alle Tatsachen. Zurzeit sind längst nicht alle physikalischen Tatsachen bekannt. Das berücksichtigt Jackson, indem er die physikalischen Tatsachen in einem weiten Sinn charakterisiert: als diejenigen Tatsachen, die eine dereinst vollendete Naturwissenschaft, die Physik, Chemie und Neurowissenschaft vereinigt, erkannt haben wird.

Da das Argument gültig ist, muss ein Verteidiger des Physikalismus, der seine Stichhaltigkeit bestreitet, wenigstens eine der Prämissen bestreiten. Hier gibt es verschiedene Möglichkeiten.

Zweifel an der Stichhaltigkeit 1: P2a zugeben und P3 bestreiten: Ja, wenn Mary etwas (Neues) lernen würde, dann wäre der Physikalismus falsch. Aber Mary lernt gar nichts Neues. Lernen kann man nämlich nur etwas, was es zu wissen gibt, und sie weiß schon alles. Sie gewinnt bloß neue (vielleicht überwältigende) Eindrücke.

Variante, die ebenfalls P3 bestreitet: Mary lernt nichts Neues. Sie weiß sogar schon, wie rote und gelbe Dinge aussehen. Wir können uns nicht vorstellen, wie es ist, alles zu wissen. Diese Variante illustriert Daniel Dennett mit einer Fortsetzung der Geschichte: Man zeigt Mary als erstes eine blaue angemalte Banane und sie reagiert (sinngemäß) mit „Für wie dumm haltet ihr mich eigentlich?” (Dennett 1991, 399).

Zweifel an der Stichhaltigkeit 2: P3 zugeben und P2a bestreiten. Mary lernt zwar etwas Neues, nämlich: wie es sich anfühlt, rot zu sehen. Aber der Physikalismus ist trotzdem nicht falsch. Denn Mary lernt nichts, was im hier einschlägigen Sinne des Wortes „Wissen“ Wissen ist. Das bezieht sich auf Tatsachen, und Mary hat schon komplettes Tatsachenwissen. Rot-Eindrücke (oder wie es ist, sie zu haben) sind keine Tatsachen.

Formale Detailanalyse

Das Argument lässt sich wie folgt als gültiger Schluss der klassischen Aussagenlogik formalisieren:

Abkürzungsverzeichnis

p:p: Der Physikalismus ist wahr.
q:q: Mary weiß alles, was es zu wissen gibt.
r:r: Mary lernt etwas.

Rekonstruktion

1pqp \to qPrämisseP1
2r¬qr \to \neg qPrämisseP2a
3rrPrämisseP3
4¬q\neg q2,3 modus ponens
5¬p\neg p1,4 modus ponens

Literaturangaben

  • Daniel Dennett (1991): Consciousness Explained, Boston: Little, Brown, & Co.
  • Peter J. Ludlow, Yujin Nagasawa und Daniel Stoljar (Hrsg.) (2004): There’s something about Mary: essays on phenomenal consciousness and Frank Jackson’s knowledge argument, MIT Press, Cambridge (Massachusetts).

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Rekonstruiert wird eine viel diskutierte Passage aus David Humes "A Treatise of Human Nature", in welcher Hume sich gegen die zu seiner Zeit weit verbreitete Auffassung (z.B. bei Descartes, Locke, Berkeley) wendet, dass wir das eigene Selbst introspektiv wahrnehmen können.

Bibliographische Angaben

David Hume, A Treatise of Human Nature, 1739/1896. Oxford: Clarendon Press.

Textstelle

If any impression gives rise to the idea of self, that impression must continue invariably the same, thro’ the whole course of our lives; since self is suppos’d to exist after that manner. But there is no impression constant and invariable. Pain and pleasure, grief and joy, passions and sensations succeed each other, and never all exist at the same time. It cannot, therefore, be from any of these impressions, or from any other, that the idea of self is deriv’d; and consequently there is no such idea. (Hume, Treatise of Human Nature, Book I, Part IV, Section VI)

Argumentrekonstruktion

  1. The self exists invariably.
  2. If an impression gives rise to an idea of something that exists invariably, then that impression itself exists invariably. (implizit)

  1. If any impression gives rise to the idea of the self, that impression itself exists invariably. (Zwischenkonklusion, aus 1-2)
  2. Pain and pleasure, grief and joy, passions and sensations succeed each other, and never all exist at the same time.

  1. No impression exists invariably. (Zwischenkonklusion, aus 4)

  1. There is no impression that gives rise to the idea of the self. (Zwischekonklusion, aus 3,5)
  2. Every real idea must be derived from an impression.

  1. We do not have a real idea of the self. (Aus 1-4)

Kommentar

Eine philosophische Diskussion des obigen Argumentes erfordert insbesondere eine Auseinandersetzung mit Humes Terminologie (z.B. „idea,“ „impression,“ „passion,“ „sensation“, „(real) idea“). So ist z.B. der Schluss von 4 auf 5 nur gültig unter der Annahme, dass es keine „Impressionen“ jenseits der in 4 genannten gibt.

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Literaturangaben