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Eine Rekonstruktion getaggt mit "psychophysische Interaktion"

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Die Philosophen der älteren Stoa hatten eine Aussagenlogik, die der heutigen klassischen Aussagenlogik recht ähnlich ist (einführend: Strobach 2019, 44-49). Sie orientierten sich beim Argumentieren an dieser Logik, was zu Argumenten von großer Klarheit führte. Von einem der frühesten Stoiker, Kleanthes (ca. 300 v. Chr.), ist eine bemerkenswerte Argumentation für eine Konklusion überliefert, welche die Stoiker selbst als These vertraten: Die Seele ist materiell. Die Argumentation ist bis zum heutigen Tag systematisch bedeutend: Kleanthes war offenbar der Ansicht, dass jeder, der seine These bestreitet, mit einem Problem der psychophysischen Interaktion konfrontiert ist, das unlösbar ist.

Bibliographische Angaben

Die Argumentation des Kleanthes ist auf Griechisch ediert als Fragment 518 in Band 1 der Fragmentsammlung Stoicorum Veterum Fragmenta (SVF) und als Fragment 45C in Long/Sedley (1987). Hier verwendete Übersetzung: Niko Strobach. Auf eine Wiedergabe des griechischen Originals wird verzichtet.

Textstelle

Der Text lautet:

Weder leidet Unkörperliches mit einem Körper mit,
noch ein Körper mit Unkörperlichem.
Die Seele leidet aber mit dem kranken oder zerschnittenen Körper mit;
ebenso der Körper mit der Seele:
wenn sie [= die Seele] sich schämt, wird er [= der Körper] rot;
wenn sie sich fürchtet, blass.
Ein Körper also ist die Seele.

Argumentrekonstruktion

Die sehr dicht formulierte Argumentation besteht aus mehreren parallel gebauten Argumenten. Im Folgenden sollen zwei Rekonstruktionen präsentiert werden. Die erste Rekonstruktion sieht zwei parallele Argumente. Die zweite Rekonstruktion, die die erste verfeinert, sieht sogar vier parallele Argumente. Wo im Griechischen „mitleiden“ („sympaschein“) steht, ist das weiter zu fassen, als es das deutsche Wort „leiden“ nahelegt. Entscheidend ist der kausale Einfluss. „A leidet mit B mit“ ist zu verstehen als „B affiziert A“.

Rekonstruktion 1

Kleanthes unterscheidet zwei Fälle.

Fall 1: Der Körper affiziert die Seele.

Fall 2: Die Seele affiziert den Körper.

Mit jedem der beiden Fälle wird ein Argument durchgeführt. Beide Male hat die erste Prämisse, P1, die Form „Weder p noch q“.

P1: Weder affiziert Körperliches Unkörperliches
noch affiziert Unkörperliches Körperliches.

„Weder p noch q“ ist aussagenlogisch äquivalent mit „Nicht p; und nicht q“ (De Morgan’sches Gesetz). Das ergibt eine erste Zwischenkonklusion:

Z1: Es ist nicht der Fall, dass Körperliches Unkörperliches affiziert;
und es ist nicht der Fall, dass Unkörperliches Körperliches affiziert. (aus P1)

Für Fall 1 ist entscheidend, dass aus Z1 aussagenlogisch folgt:

Z2-Fall_1: Es ist nicht der Fall, dass Körperliches Unkörperliches affiziert. (aus Z1)

Für Fall_2 ist entscheidend, dass aus Z1 aussagenlogisch folgt:

Z2-Fall_2: Es ist nicht der Fall, dass Unkörperliches Körperliches affiziert. (aus Z1)

Ab dieser Stelle wird es etwas knifflig. Man möchte am liebsten als nächstes sofort eine Prämisse P2-Fall_1 und eine Prämisse P2-Fall_2 ins Spiel bringen:

P2-Fall_1: Der Körper affiziert die Seele. (= „Die Seele leidet mit dem Körper mit.“)

P2-Fall_2: Die Seele affiziert den Körper. (= „Der Körper leidet mit der Seele mit.“)

Aber von der Seele war bisher noch gar nicht die Rede. Der Anschluss fehlt. Er muss durch zwei zu ergänzende Brückenprämissen, PB-1 und PB-2, hergestellt werden. Hier bieten sich an:

PB-Fall_1:Wenn es nicht der Fall ist, dass Körperliches Unkörperliches affiziert, dann gilt:
Wenn die Seele kein Körper ist, dann affiziert der Körper nicht die Seele.
PB-Fall_2:Wenn es nicht der Fall ist, dass Unkörperliches Körperliches affiziert, dann gilt:
Wenn die Seele kein Körper ist, dann affiziert die Seele nicht den Körper.

„Die Seele ist kein Körper“ ist dabei eine abkürzende Redeweise für „Es ist nicht der Fall, dass die Seele ein Körper ist“. Mit modus ponens (Wenn p, dann q, nun aber p; also q) folgt aus Z2-Fall_1 und PB-Fall_1:

Z3-Fall_1: Wenn die Seele kein Körper ist, dann affiziert der Körper nicht die Seele.

Und aus Z2-Fall_2 und PB-Fall_2 folgt mit modus ponens:

Z3-Fall_2: Wenn die Seele kein Körper ist, dann affiziert die Seele nicht den Körper.

Nun können wir mit P2-Fall_1 und P2-Fall_2 arbeiten. Warum? Ein modus tollens hat die Form:

Wenn p, dann q; nun aber nicht q; also nicht p.

Mit Einsetzung erhält man die folgende Variante des modus tollens:

Wenn nicht r, dann nicht s; nun aber nicht nicht s; also nicht nicht r.

Mit dem Gesetz der doppelten Negation, das die Stoiker akzeptierten, kürzt sich das zu:

Wenn nicht r, dann nicht s; nun aber s; also r.

Für r lässt sich lesen „Die Seele ist ein Körper“. Für Fall 1 lesen wir s als „Die Seele affiziert den Körper“. Mit der gerade beschriebenen Variante des modus tollens kann man deshalb aus Z3-Fall_1 und P2-Fall_1 schließen auf die Konklusion:

K(onklusion): Die Seele ist ein Körper.

Für Fall 2 lesen wir s als „Der Körper affiziert die Seele.“ Für Fall 2 ergibt sich mit der modus tollens-Variante die Konklusion aus Z3-Fall_2 und P2-Fall_2.

Wo sind die schönen Beispiele? Wo wird zum Beispiel das Wort „zerschnitten“ aus dem Text berücksichtigt? Wo geht es ums Erröten? Ein deduktiv gültiges Argument, das Stichhaltigkeit beansprucht, besteht oft nicht nur aus den Prämissen und der Konklusion, sondern enthält auch Text, der die Wahrheit der Prämissen motivieren soll. Denn ein Argument ist ja gerade dann stichhaltig, wenn es deduktiv gültig ist und alle seine Prämissen wahr sind. Man kann es bei Rekonstruktion 1 belassen und sagen: Die Beispiele motivieren die Wahrheit der jeweils zweiten Prämisse. Sie sind sozusagen die Muskeln am Argument-Skelett. P2-Fall_1 wird durch zwei Punkte motiviert:

M1-Fall_1: Wenn der Körper krank ist, leidet die Seele.

M2-Fall_1: Wenn der Körper verletzt ist, leidet die Seele.

Und P2-Fall_2 wird ebenfalls durch zwei Punkte motiviert:

M1-Fall_2: Wenn die Seele sich schämt, errötet der Körper.

M2-Fall_2: Wenn die Seele sich fürchtet, wird der Körper blass.

Das kann man so sehen. Aber es ist doch unbefriedigend, die Beispiele nicht mit in die Rekonstruktion des Arguments einzubeziehen. Wie man das doch tun kann, zeigt...

Rekonstruktion 2

Kleanthes unterscheidet ihr zufolge vier Fälle.

Fall 1:Der Körper affiziert die Seele.
Unterfall 1a:Wenn der Körper krank ist, leidet die Seele. (= M1-Fall_1)
Unterfall 1b:Wenn der Körper verletzt ist, leidet die Seele. (= M2-Fall_1)
Fall 2:Die Seele affiziert den Körper.
Unterfall 2a:Wenn die Seele sich schämt, errötet der Körper. (= M1-Fall_2)
Unterfall 2b:Wenn die Seele sich fürchtet, wird der Körper blass. (= M2-Fall_2)

Der Text enthält vier Argumente. Da die beiden Unterfälle zu Fall 1 und die beiden Unterfälle zu Fall 2 völlig parallel verlaufen, genügt es, je einen davon zu betrachten, zum Beispiel das Argument mit M2-Fall_1 (Verletzung) und das mit M1-Fall_2 (Erröten). Zunächst läuft alles wie gehabt. Das Argument mit M2-Fall_1 ist bis einschließlich Z3-Fall_1 identisch mit dem Argument für Fall 1 in Rekonstruktion 1. Das Argument mit M1-Fall_2 ist bis einschließlich Z3-Fall_2 identisch mit dem Argument für Fall 2 in Rekonstruktion 1. Nur werden im Argument mit M2-Fall_1 zwei neue Prämissen eingeführt:

PB-M2-Fall_1:Wenn, wenn der Körper verletzt ist, die Seele leidet,
dann affiziert der Körper die Seele.
M2-Fall_1:Wenn der Körper verletzt ist, leidet die Seele.

Daraus wird mit modus ponens auf P2-Fall_1 von Rekonstruktion 1 geschlossen. Sie hat also jetzt den Status einer Zwischenkonklusion:

Z4-M2-Fall_1: Der Körper affiziert die Seele.

Aus Z4-M2-Fall_1 und Z3-Fall_1 folgt mit der modus tollens-Variante die Konklusion. Entsprechend werden im Argument mit M1-Fall_2 zwei neue Prämissen eingeführt:

PB-M1-Fall_2:Wenn, wenn die Seele sich schämt, der Körper errötet,
dann affiziert die Seele den Körper.
M1-Fall_2:Wenn die Seele sich schämt, errötet der Körper.

Wieder wird mit modus ponens auf P2-Fall_2 von Rekonstruktion 1 geschlossen. Sie hat also jetzt den Status einer Zwischenkonklusion:

Z4-M1-Fall_2: Die Seele affiziert den Körper.

Aus Z4-M1-Fall_2 und Z3-Fall_2 folgt mit der modus tollens-Variante die Konklusion.

Zum Überblick ist es gut, sich noch einmal das Argument mit M2-Fall_1 in voller Länge vor Augen zu führen:

P1:Weder affiziert Körperliches Unkörperliches
noch affiziert Unkörperliches Körperliches.
Z1:Es ist nicht der Fall, dass Körperliches Unkörperliches affiziert;
und es ist nicht der Fall, dass Unkörperliches Körperliches affiziert. (aus P1)
Z2-Fall_1:Es ist nicht der Fall, dass Körperliches Unkörperliches affiziert. (aus Z1)
PB-1:Wenn es nicht der Fall ist, dass Körperliches Unkörperliches affiziert,
dann gilt: Wenn die Seele kein Körper ist, dann affiziert der Körper nicht die Seele.
Z3-Fall_1:Wenn die Seele kein Körper ist, dann affiziert der Körper nicht die Seele. (aus Z2-Fall_1 und PB-1 mit modus ponens)
PB-M2-Fall_1:Wenn, wenn der Körper verletzt ist, die Seele leidet,
dann affiziert der Körper die Seele.
M2-Fall_1:Wenn der Körper verletzt ist, leidet die Seele.
Z4-M2-Fall_1:Der Körper affiziert die Seele.
(aus PB-M2-Fall_1 und M2-Fall_1 mit modus ponens)
Konklusion:Die Seele ist ein Körper.
(aus Z3-Fall_1 und Z4-M2-Fall_1 mit modus tollens-Variante)

Kommentar

Beide Rekonstruktionen bedienen sich aussagenlogischer Schlussformen, die die Stoiker akzeptieren und die auch in der klassischen Aussagenlogik gelten. Die Rekonstruktion ist deduktiv gültig.

Man darf für beide Rekonstruktionen unterstellen, dass Kleanthes alle Prämissen akzeptiert hat, also der Ansicht war, ein stichhaltiges Argument vorzubringen. Es ist für beide Rekonstruktionen nicht offensichtlich absurd, alle Prämissen für wahr zu halten. Dennoch ist es interessant zu sehen, wer die Wahrheit welcher Prämisse bestreiten und damit die Stichhaltigkeit des Argumentes angreifen könnte.

1) Ein Anhänger von Platon (427-347 v. Chr.) oder ein Anhänger von René Descartes (1596-1650) wird P1 ablehnen: Psychophysische Interaktion ist seiner Ansicht nach auch bei immaterieller Seele möglich. Unkörperliches und Körperliches können doch interagieren.

2) Ein Anhänger von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) wird in der ersten Rekonstruktion die jeweils zweite Prämisse ablehnen, also P2-Fall_1 und P2-Fall_2. In der zweiten Rekonstruktion wird er die Brückenprämissen für die Unterfälle ablehnen, also zum Beispiel PB-M1-Fall_2 und PB-M2-Fall_1. Denn Leibniz vertrat einen psycho-physischen Parallelismus. Er hätte gesagt: Es ist zwar so, dass der Körper rot wird, wenn die Seele sich schämt. Aber das heißt noch lange nicht, dass die Seele den Körper affiziert. Und: Es ist zwar so, dass die Seele Schmerzen spürt, wenn der Körper verletzt wird. Aber das heißt nicht, dass der Körper die Seele affiziert. Es läuft einfach jeweils beides parallel (prästabilierte Harmonie). Es ist zu vermuten, dass ein Leibnizianer Rekonstruktion 2 besonders schätzt, weil sie es ihm erlaubt, besonders genau zu sagen, was er bestreitet.

3) Die Stoiker bejahten die Existenz der Seele. Sie hielten sie für eine Wolke aus feiner Materie. Was tut jemand, der nicht an die Existenz der Seele glaubt? Für Rekonstruktion 1 wird er die jeweils zweiten Prämissen bestreiten also P2-Fall_1 und P2-Fall_2: Es ist nicht der Fall, dass der Körper die Seele affiziert, weil es gar keine Seele gibt. Und es ist nicht der Fall, dass die Seele den Körper affiziert, weil es keine Seele gibt. Mit Rekonstruktion 2 ist es etwas komplizierter. Im Argument mit M2-Fall_1 wird er genau M2-Fall_1 ablehnen. Denn für den einschlägigen Fall, dass der Körper verletzt ist, ist er gerade nicht der Meinung, dass die Seele leidet, weil er meint, dass es keine Seele gibt. Im Argument mit M1-Fall_2 wird er hingegen M1-Fall_2 zugeben: Den Satz „Die Seele schämt sich“ hält er ja für falsch, weil es keine Seele gibt; deshalb wird das (hier einschlägige) materiale Konditional „Wenn die Seele sich schämt, errötet der Körper“ wahr. Aber gerade deshalb wird er PB-M1-Fall_2 ablehnen: Er hält zwar deren Antezedens („Wenn“-Teil), nämlich M1-Fall_2 („Wenn die Seele sich schämt, errötet der Körper“) für wahr, ihr Sukzedens („Dann“-Teil), „Die Seele affiziert den Körper“ aber für falsch.

Formale Detailanalyse

Beide Rekonstruktionen bedienen sich der klassischen Aussagenlogik.

Rekonstruktion 1

Abkürzungsverzeichnis für Fall 1 (Körper affiziert Seele):

p: Unkörperliches affiziert Körperliches.
q: Körperliches affiziert Unkörperliches.
r: Der Körper affiziert die Seele.
r*: Die Seele affiziert den Körper.
s: Die Seele ist ein Körper.

Rekonstruktion 1, Fall 1

1¬(pq)\neg (p \lor q)Prämisse („weder ... noch“)P1
2¬p¬q\neg p \land \neg q1 De MorganZ1
3¬q\neg q2 aussagenlogischZ2-Fall_1
4¬q(¬s¬r)\neg q \to (\neg s \to \neg r)(Brücken-)PrämissePB-1
5¬s¬r\neg s \to \neg r3,4 modus ponensZ3-Fall_1
6rrPrämisseP2-Fall_1
7ss5,6 modus tollens-VarianteK

Rekonstruktion 1, Fall 2

1¬(pq)\neg (p \land q)Prämisse („weder ... noch“)P1
2¬p¬q\neg p \land \neg q1 De MorganZ1
3¬p\neg p2 aussagenlogischZ2-Fall_1
4¬p(¬s¬r\*)\neg p \to (\neg s \to \neg r\*)(Brücken-)PrämissePB-1
5¬s¬r\*\neg s \to \neg r\*3,4 modus ponensZ3-Fall_1
6r\*r\*PrämisseP2-Fall_1
7ss5,6 modus tollens-VarianteK

Rekonstruktion 2, der Fall mit M2-Fall_1

Erweiterung des Abkürzungsverzeichnisses:

v: Der Körper ist verletzt.
l: Die Seele leidet

1¬(pq)\neg (p \lor q)Prämisse („weder ... noch“)P1
2¬p¬q\neg p \land \neg q1 De MorganZ1
3¬q\neg q2 aussagenlogischZ2-Fall_1
4¬q(¬s¬r)\neg q \to (\neg s \to \neg r)(Brücken-)PrämissePB-1
5¬s¬r\neg s \to \neg r3,4 modus ponensZ3-Fall_1
6vlv \to lPrämisseM2-Fall_1
7(vl)r(v \to l) \to r(Brücken-)PrämisseBP-M2-Fall_1
8rr6,7 modus ponensZ4-M2-Fall_1
9ss5,6 modus tollens-VarianteK

Literaturangaben

  • Arnim, Hans von (1964) [1905]: Stoicorum Veterum Fragmenta. Bd. I. Stuttgart: Teubner.
  • Anthony A. Long/David N. Sedley (1987): The Hellenistic Philosophers. Cambridge: Cambridge University Press.
  • Niko Strobach (2019), Einführung in die Logik. WBG: Darmstadt.