Zum Hauptinhalt springen

2 Rekonstruktionen getaggt mit "psychophysische Interaktion"

Alle Tags anzeigen

· 6 Minuten Lesezeit
Als PDF herunterladen
Elisabeth von der Pfalz (1618-1680) formuliert in ihren Briefen an René Descartes eine Version des Geist-Körper-Problems, das auf der Physik von Descartes beruht. Sie argumentiert gegen Descartes‘ Begriff der Seele: Unter der von ihr geteilten Annahme, dass die Seele die Bewegung des Körpers bestimmt, kann die Seele nicht unausgedehnt sein. Man kann das Argument als Reductio ad absurdum darstellen.

Bibliographische Angaben

Elisabeth von der Pfalz, „Brief an René Descartes, 16. Mai 1643“, in: René Descartes. Der Briefwechsel mit Elisabeth von der Pfalz. Französisch-Deutsch. Hg. V. Isabelle Wienand und Olivier Ribordy, Hamburg: Meiner 2015. Hier wird eine eigene Übersetzung verwendet.

Textstelle

In ihrem ersten Brief an René Descartes (1596-1650) vom 16. Mai 1643 schreibt Elisabeth von der Pfalz (1618-1680):

Original Französisch

en vous priant de me dire comment l’âme de l’homme peut déterminer les esprits du corps, pour faire les actions volontaires (n’étant qu’une substance pensante). Car il semble que toute détermination de mouvement se fait par la pulsion de la chose mue, à manière dont elle est poussée par celle qui la meut, ou bien de la qualification et figure de la superficie de cette dernière. L’attouchement est requis aux deux premières conditions, et l’extension à la troisième. Vous excluez entièrement celle-ci de la notion que vous avez de l’âme, et celui-là me paraît incompatible avec une chose immatérielle.

Übersetzung (durch JP)

Ich bitte Sie, mir zu erklären, wie die Seele des Menschen die Lebensgeister des Körpers bestimmen kann, um willentliche Handlungen auszuführen, da sie doch nur eine denkende Substanz ist. Denn es scheint, dass jede Bestimmung der Bewegung entweder durch den Anstoß der bewegten Sache erfolgt, in der Weise, wie sie von der bewegenden angestoßen wird, oder aber durch die Beschaffenheit und Gestalt der Oberfläche der letzteren. Für die ersten beiden Bedingungen ist Berührung erforderlich, für die dritte die Ausdehnung. Sie schließen letztere vollständig aus Ihrem Begriff der Seele aus, und ersteres scheint mir mit einer immateriellen Sache unvereinbar zu sein.

Argumentrekonstruktion

Das Argument kann wie folgt als eine Reductio ad absurdum rekonstruiert werden:

(1) Die Seele ist eine denkende, nicht-ausgedehnte, immaterielle Substanz. (Annahme) (2) Die Seele bestimmt die Bewegung des Körpers, um willentliche Handlungen auszuführen. (3) Jede Bestimmung der Bewegung des Körpers geschieht entweder a) durch den Anstoß der bewegten Sache, entsprechend der Weise, wie sie von der bewegenden angestoßen wird, oder b) durch die Beschaffenheit und die Gestalt der Oberfläche der bewegten Sache. (4) Für Bewegung durch a) ist Berührung erforderlich. (5) Berührung ist mit einer immateriellen Sache unvereinbar, d.h.: Wenn eine Bewegung Berührung erfordert und die Seele eine denkende, nicht-ausgedehnte, immaterielle Substanz ist, dann kann die Seele nicht die Bewegung bestimmen. (6) Für Bewegung durch b) ist Ausdehnung erforderlich. (7) Der Begriff der Seele schließt Ausdehnung aus, d.h.: Wenn eine Bewegung Ausdehnung erfordert und die Seele eine denkende, nicht-ausgedehnte, immaterielle Substanz ist, dann kann die Seele nicht die Bewegung bestimmen.

Daraus folgt:

(8) Die Seele kann keine Bewegung des Körpers bestimmen. (Aus 1, 3, 4, 5, 6, und 7) (9) Die Seele bestimmt die Bewegung des Körpers, und die Seele bestimmt nicht die Bewegung des Körpers. (aus 2 und 8) Widerspruch!

Daraus folgt:

(10) Die Annahme 1 ist falsch: Die Seele ist nicht eine denkende, nicht-ausgedehnte, immaterielle Substanz. (Reductio ad absurdum)

Kommentar

Prämisse 1 ist Descartes’ Definition des Begriffs der Seele: Im Unterschied zum Körper, der ausgedehnten Substanz (res extensa), ist die Seele, die denkende Substanz (res cogitans), nicht-ausgedehnt. Unter einer Substanz versteht Descartes etwas, das unabhängig von anderem existieren kann. Elisabeth übernimmt diese Definition als Annahme, um sie per Reductio as absurdum zurückzuweisen.

Prämisse 2 ist eine weitere Annahme von Descartes, die Elisabeth allerdings teilt. Sie ist der Auffassung, dass die Seele den Körper bewegt. Sie schreibt zum Beispiel in ihrem Brief vom 1. Juli 1643: „Ich finde auch, dass mir die Sinne zeigen, dass die Seele den Körper bewegt.“ Elisabeth möchte von Descartes wissen, wie es möglich ist, dass die Seele dies nach seinem Begriff davon vermag. Welchen Begriff Elisabeth hat, ist nicht so leicht zu bestimmen (siehe dazu u.a. Tollefsen 1999; Shapiro 1999; und zusammenfassend Shapiro 2021). Es ist umstritten, ob sie der Seele Ausdehnung zuschreibt, oder ob sie es zulässt, dass es eine noch nicht entdeckte Möglichkeit der Beeinflussung durch die nicht-ausgedehnte Seele gibt. In ihrem Brief vom 20. Juni 1943, der eine Antwort auf Descartes’ Lösung auf das von ihr gestellte Problem in ihrem ersten Brief ist, die sie offensichtlich unbefriedigt zurücklässt, schreibt Elisabeth einerseits: „Und ich gestehe, dass es mir leichter fallen würde, der Seele Materie und Ausdehnung zuzugestehen, als einem immateriellen Wesen die Fähigkeit, einen Körper zu bewegen und von ihm bewegt zu werden.“ Andererseits stellt sie Descartes immer wieder die Frage nach der Möglichkeit der Beeinflussung durch eine immaterielle Seele, so als würde sie eine solche Möglichkeit nicht ausschließen wollen. In ihrem Brief vom 1. Juli 1643 schreibt sie: „Ich finde auch, dass mir die Sinne zeigen, dass die Seele den Körper bewegt, aber sie lehren mich ebenso wenig (wie der Verstand und die Einbildungskraft) die Art und Weise, wie sie es tut. Und deshalb denke ich, dass es Eigenschaften der Seele gibt, die uns unbekannt sind und die vielleicht das umstoßen könnten, was mich Ihre Meditationen über die Erste Philosophie mit so guten Gründen von der Unausgedehntheit der Seele überzeugt haben.“ Noch eine Bemerkung zur Formulierung der Prämisse 2: Der Begriff der „Lebensgeister“ (esprits du corps) wurde weggelassen, um der Frage aus dem Weg zu gehen, was diesen entspricht.

Prämisse 3 entspricht der Physik der damaligen Zeit. Elisabeth hat Descartes’ Theorie der Bewegung in La Dioptrique (als Anhang zum Discours de la méthode 1637 publiziert) genau gelesen und wendet sie hier an: die Bestimmung der Bewegung (détermination de mouvement) hängt laut Descartes genau vom Anstoß oder der Beschaffenheit und die Gestalt der Oberfläche der bewegten Sache ab (Tollefsen 1999: 62-64).

Formale Detailanalyse

Das Argument lässt sich wie folgt formalisieren:

Abkürzungsverzeichnis

p: Die Seele ist eine denkende, immaterielle, nicht-ausgedehnte Substanz. q: Die Seele bestimmt die Bewegung des Körpers, um willentliche Handlungen auszuführen. r: Die Bewegung einer Sache wird durch Anstoß einer bewegenden Sache bestimmt. s: Die Bewegung einer Sache wird durch die Beschaffenheit und Gestalt ihrer Oberfläche bestimmt. t: Für die Bewegung ist Berührung erforderlich. u: Für die Bewegung ist Ausdehnung erforderlich.

Argument

(1) p (2) q (3) r ∨ s (4) r → t (5) (p ∧ t) → ¬q (6) s → u (7) (p ∧ u) → ¬q ⊢ (8) ¬q (aus 1, 3, 4, 5, 6, 7) (9) q ∧ ¬q (aus 2, 8) ⊢ (10) ¬p (per Reductio ad absurdum)

Literaturangaben

  • Shapiro, Lisa, 1999, “Princess Elizabeth and Descartes: The Union of Mind and Body and the Practice of Philosophy,”British Journal for the History of Philosophy, 7(3): 503–20.
  • Shapiro, Lisa, 2021, "Elisabeth, Princess of Bohemia", The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Fall 2021 Edition), Edward N. Zalta (ed.), URL = https://plato.stanford.edu/entries/elisabeth-bohemia/.
  • Tollefsen, Deborah, 1999, “Princess Elisabeth and the Problem of Mind-Body Interaction,” Hypatia, 14(3): 59–77.

· 12 Minuten Lesezeit
Als PDF herunterladen
Die Philosophen der älteren Stoa hatten eine Aussagenlogik, die der heutigen klassischen Aussagenlogik recht ähnlich ist (einführend: Strobach 2019, 44-49). Sie orientierten sich beim Argumentieren an dieser Logik, was zu Argumenten von großer Klarheit führte. Von einem der frühesten Stoiker, Kleanthes (ca. 300 v. Chr.), ist eine bemerkenswerte Argumentation für eine Konklusion überliefert, welche die Stoiker selbst als These vertraten: Die Seele ist materiell. Die Argumentation ist bis zum heutigen Tag systematisch bedeutend: Kleanthes war offenbar der Ansicht, dass jeder, der seine These bestreitet, mit einem Problem der psychophysischen Interaktion konfrontiert ist, das unlösbar ist.

Bibliographische Angaben

Die Argumentation des Kleanthes ist auf Griechisch ediert als Fragment 518 in Band 1 der Fragmentsammlung Stoicorum Veterum Fragmenta (SVF) und als Fragment 45C in Long/Sedley (1987). Hier verwendete Übersetzung: Niko Strobach. Auf eine Wiedergabe des griechischen Originals wird verzichtet.

Textstelle

Der Text lautet:

Weder leidet Unkörperliches mit einem Körper mit,
noch ein Körper mit Unkörperlichem.
Die Seele leidet aber mit dem kranken oder zerschnittenen Körper mit;
ebenso der Körper mit der Seele:
wenn sie [= die Seele] sich schämt, wird er [= der Körper] rot;
wenn sie sich fürchtet, blass.
Ein Körper also ist die Seele.

Argumentrekonstruktion

Die sehr dicht formulierte Argumentation besteht aus mehreren parallel gebauten Argumenten. Im Folgenden sollen zwei Rekonstruktionen präsentiert werden. Die erste Rekonstruktion sieht zwei parallele Argumente. Die zweite Rekonstruktion, die die erste verfeinert, sieht sogar vier parallele Argumente. Wo im Griechischen „mitleiden“ („sympaschein“) steht, ist das weiter zu fassen, als es das deutsche Wort „leiden“ nahelegt. Entscheidend ist der kausale Einfluss. „A leidet mit B mit“ ist zu verstehen als „B affiziert A“.

Rekonstruktion 1

Kleanthes unterscheidet zwei Fälle.

Fall 1: Der Körper affiziert die Seele.

Fall 2: Die Seele affiziert den Körper.

Mit jedem der beiden Fälle wird ein Argument durchgeführt. Beide Male hat die erste Prämisse, P1, die Form „Weder p noch q“.

P1: Weder affiziert Körperliches Unkörperliches
noch affiziert Unkörperliches Körperliches.

„Weder p noch q“ ist aussagenlogisch äquivalent mit „Nicht p; und nicht q“ (De Morgan’sches Gesetz). Das ergibt eine erste Zwischenkonklusion:

Z1: Es ist nicht der Fall, dass Körperliches Unkörperliches affiziert;
und es ist nicht der Fall, dass Unkörperliches Körperliches affiziert. (aus P1)

Für Fall 1 ist entscheidend, dass aus Z1 aussagenlogisch folgt:

Z2-Fall_1: Es ist nicht der Fall, dass Körperliches Unkörperliches affiziert. (aus Z1)

Für Fall_2 ist entscheidend, dass aus Z1 aussagenlogisch folgt:

Z2-Fall_2: Es ist nicht der Fall, dass Unkörperliches Körperliches affiziert. (aus Z1)

Ab dieser Stelle wird es etwas knifflig. Man möchte am liebsten als nächstes sofort eine Prämisse P2-Fall_1 und eine Prämisse P2-Fall_2 ins Spiel bringen:

P2-Fall_1: Der Körper affiziert die Seele. (= „Die Seele leidet mit dem Körper mit.“)

P2-Fall_2: Die Seele affiziert den Körper. (= „Der Körper leidet mit der Seele mit.“)

Aber von der Seele war bisher noch gar nicht die Rede. Der Anschluss fehlt. Er muss durch zwei zu ergänzende Brückenprämissen, PB-1 und PB-2, hergestellt werden. Hier bieten sich an:

PB-Fall_1:Wenn es nicht der Fall ist, dass Körperliches Unkörperliches affiziert, dann gilt:
Wenn die Seele kein Körper ist, dann affiziert der Körper nicht die Seele.
PB-Fall_2:Wenn es nicht der Fall ist, dass Unkörperliches Körperliches affiziert, dann gilt:
Wenn die Seele kein Körper ist, dann affiziert die Seele nicht den Körper.

„Die Seele ist kein Körper“ ist dabei eine abkürzende Redeweise für „Es ist nicht der Fall, dass die Seele ein Körper ist“. Mit modus ponens (Wenn p, dann q, nun aber p; also q) folgt aus Z2-Fall_1 und PB-Fall_1:

Z3-Fall_1: Wenn die Seele kein Körper ist, dann affiziert der Körper nicht die Seele.

Und aus Z2-Fall_2 und PB-Fall_2 folgt mit modus ponens:

Z3-Fall_2: Wenn die Seele kein Körper ist, dann affiziert die Seele nicht den Körper.

Nun können wir mit P2-Fall_1 und P2-Fall_2 arbeiten. Warum? Ein modus tollens hat die Form:

Wenn p, dann q; nun aber nicht q; also nicht p.

Mit Einsetzung erhält man die folgende Variante des modus tollens:

Wenn nicht r, dann nicht s; nun aber nicht nicht s; also nicht nicht r.

Mit dem Gesetz der doppelten Negation, das die Stoiker akzeptierten, kürzt sich das zu:

Wenn nicht r, dann nicht s; nun aber s; also r.

Für r lässt sich lesen „Die Seele ist ein Körper“. Für Fall 1 lesen wir s als „Die Seele affiziert den Körper“. Mit der gerade beschriebenen Variante des modus tollens kann man deshalb aus Z3-Fall_1 und P2-Fall_1 schließen auf die Konklusion:

K(onklusion): Die Seele ist ein Körper.

Für Fall 2 lesen wir s als „Der Körper affiziert die Seele.“ Für Fall 2 ergibt sich mit der modus tollens-Variante die Konklusion aus Z3-Fall_2 und P2-Fall_2.

Wo sind die schönen Beispiele? Wo wird zum Beispiel das Wort „zerschnitten“ aus dem Text berücksichtigt? Wo geht es ums Erröten? Ein deduktiv gültiges Argument, das Stichhaltigkeit beansprucht, besteht oft nicht nur aus den Prämissen und der Konklusion, sondern enthält auch Text, der die Wahrheit der Prämissen motivieren soll. Denn ein Argument ist ja gerade dann stichhaltig, wenn es deduktiv gültig ist und alle seine Prämissen wahr sind. Man kann es bei Rekonstruktion 1 belassen und sagen: Die Beispiele motivieren die Wahrheit der jeweils zweiten Prämisse. Sie sind sozusagen die Muskeln am Argument-Skelett. P2-Fall_1 wird durch zwei Punkte motiviert:

M1-Fall_1: Wenn der Körper krank ist, leidet die Seele.

M2-Fall_1: Wenn der Körper verletzt ist, leidet die Seele.

Und P2-Fall_2 wird ebenfalls durch zwei Punkte motiviert:

M1-Fall_2: Wenn die Seele sich schämt, errötet der Körper.

M2-Fall_2: Wenn die Seele sich fürchtet, wird der Körper blass.

Das kann man so sehen. Aber es ist doch unbefriedigend, die Beispiele nicht mit in die Rekonstruktion des Arguments einzubeziehen. Wie man das doch tun kann, zeigt...

Rekonstruktion 2

Kleanthes unterscheidet ihr zufolge vier Fälle.

Fall 1:Der Körper affiziert die Seele.
Unterfall 1a:Wenn der Körper krank ist, leidet die Seele. (= M1-Fall_1)
Unterfall 1b:Wenn der Körper verletzt ist, leidet die Seele. (= M2-Fall_1)
Fall 2:Die Seele affiziert den Körper.
Unterfall 2a:Wenn die Seele sich schämt, errötet der Körper. (= M1-Fall_2)
Unterfall 2b:Wenn die Seele sich fürchtet, wird der Körper blass. (= M2-Fall_2)

Der Text enthält vier Argumente. Da die beiden Unterfälle zu Fall 1 und die beiden Unterfälle zu Fall 2 völlig parallel verlaufen, genügt es, je einen davon zu betrachten, zum Beispiel das Argument mit M2-Fall_1 (Verletzung) und das mit M1-Fall_2 (Erröten). Zunächst läuft alles wie gehabt. Das Argument mit M2-Fall_1 ist bis einschließlich Z3-Fall_1 identisch mit dem Argument für Fall 1 in Rekonstruktion 1. Das Argument mit M1-Fall_2 ist bis einschließlich Z3-Fall_2 identisch mit dem Argument für Fall 2 in Rekonstruktion 1. Nur werden im Argument mit M2-Fall_1 zwei neue Prämissen eingeführt:

PB-M2-Fall_1:Wenn, wenn der Körper verletzt ist, die Seele leidet,
dann affiziert der Körper die Seele.
M2-Fall_1:Wenn der Körper verletzt ist, leidet die Seele.

Daraus wird mit modus ponens auf P2-Fall_1 von Rekonstruktion 1 geschlossen. Sie hat also jetzt den Status einer Zwischenkonklusion:

Z4-M2-Fall_1: Der Körper affiziert die Seele.

Aus Z4-M2-Fall_1 und Z3-Fall_1 folgt mit der modus tollens-Variante die Konklusion. Entsprechend werden im Argument mit M1-Fall_2 zwei neue Prämissen eingeführt:

PB-M1-Fall_2:Wenn, wenn die Seele sich schämt, der Körper errötet,
dann affiziert die Seele den Körper.
M1-Fall_2:Wenn die Seele sich schämt, errötet der Körper.

Wieder wird mit modus ponens auf P2-Fall_2 von Rekonstruktion 1 geschlossen. Sie hat also jetzt den Status einer Zwischenkonklusion:

Z4-M1-Fall_2: Die Seele affiziert den Körper.

Aus Z4-M1-Fall_2 und Z3-Fall_2 folgt mit der modus tollens-Variante die Konklusion.

Zum Überblick ist es gut, sich noch einmal das Argument mit M2-Fall_1 in voller Länge vor Augen zu führen:

P1:Weder affiziert Körperliches Unkörperliches
noch affiziert Unkörperliches Körperliches.
Z1:Es ist nicht der Fall, dass Körperliches Unkörperliches affiziert;
und es ist nicht der Fall, dass Unkörperliches Körperliches affiziert. (aus P1)
Z2-Fall_1:Es ist nicht der Fall, dass Körperliches Unkörperliches affiziert. (aus Z1)
PB-1:Wenn es nicht der Fall ist, dass Körperliches Unkörperliches affiziert,
dann gilt: Wenn die Seele kein Körper ist, dann affiziert der Körper nicht die Seele.
Z3-Fall_1:Wenn die Seele kein Körper ist, dann affiziert der Körper nicht die Seele. (aus Z2-Fall_1 und PB-1 mit modus ponens)
PB-M2-Fall_1:Wenn, wenn der Körper verletzt ist, die Seele leidet,
dann affiziert der Körper die Seele.
M2-Fall_1:Wenn der Körper verletzt ist, leidet die Seele.
Z4-M2-Fall_1:Der Körper affiziert die Seele.
(aus PB-M2-Fall_1 und M2-Fall_1 mit modus ponens)
Konklusion:Die Seele ist ein Körper.
(aus Z3-Fall_1 und Z4-M2-Fall_1 mit modus tollens-Variante)

Kommentar

Beide Rekonstruktionen bedienen sich aussagenlogischer Schlussformen, die die Stoiker akzeptieren und die auch in der klassischen Aussagenlogik gelten. Die Rekonstruktion ist deduktiv gültig.

Man darf für beide Rekonstruktionen unterstellen, dass Kleanthes alle Prämissen akzeptiert hat, also der Ansicht war, ein stichhaltiges Argument vorzubringen. Es ist für beide Rekonstruktionen nicht offensichtlich absurd, alle Prämissen für wahr zu halten. Dennoch ist es interessant zu sehen, wer die Wahrheit welcher Prämisse bestreiten und damit die Stichhaltigkeit des Argumentes angreifen könnte.

1) Ein Anhänger von Platon (427-347 v. Chr.) oder ein Anhänger von René Descartes (1596-1650) wird P1 ablehnen: Psychophysische Interaktion ist seiner Ansicht nach auch bei immaterieller Seele möglich. Unkörperliches und Körperliches können doch interagieren.

2) Ein Anhänger von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) wird in der ersten Rekonstruktion die jeweils zweite Prämisse ablehnen, also P2-Fall_1 und P2-Fall_2. In der zweiten Rekonstruktion wird er die Brückenprämissen für die Unterfälle ablehnen, also zum Beispiel PB-M1-Fall_2 und PB-M2-Fall_1. Denn Leibniz vertrat einen psycho-physischen Parallelismus. Er hätte gesagt: Es ist zwar so, dass der Körper rot wird, wenn die Seele sich schämt. Aber das heißt noch lange nicht, dass die Seele den Körper affiziert. Und: Es ist zwar so, dass die Seele Schmerzen spürt, wenn der Körper verletzt wird. Aber das heißt nicht, dass der Körper die Seele affiziert. Es läuft einfach jeweils beides parallel (prästabilierte Harmonie). Es ist zu vermuten, dass ein Leibnizianer Rekonstruktion 2 besonders schätzt, weil sie es ihm erlaubt, besonders genau zu sagen, was er bestreitet.

3) Die Stoiker bejahten die Existenz der Seele. Sie hielten sie für eine Wolke aus feiner Materie. Was tut jemand, der nicht an die Existenz der Seele glaubt? Für Rekonstruktion 1 wird er die jeweils zweiten Prämissen bestreiten also P2-Fall_1 und P2-Fall_2: Es ist nicht der Fall, dass der Körper die Seele affiziert, weil es gar keine Seele gibt. Und es ist nicht der Fall, dass die Seele den Körper affiziert, weil es keine Seele gibt. Mit Rekonstruktion 2 ist es etwas komplizierter. Im Argument mit M2-Fall_1 wird er genau M2-Fall_1 ablehnen. Denn für den einschlägigen Fall, dass der Körper verletzt ist, ist er gerade nicht der Meinung, dass die Seele leidet, weil er meint, dass es keine Seele gibt. Im Argument mit M1-Fall_2 wird er hingegen M1-Fall_2 zugeben: Den Satz „Die Seele schämt sich“ hält er ja für falsch, weil es keine Seele gibt; deshalb wird das (hier einschlägige) materiale Konditional „Wenn die Seele sich schämt, errötet der Körper“ wahr. Aber gerade deshalb wird er PB-M1-Fall_2 ablehnen: Er hält zwar deren Antezedens („Wenn“-Teil), nämlich M1-Fall_2 („Wenn die Seele sich schämt, errötet der Körper“) für wahr, ihr Sukzedens („Dann“-Teil), „Die Seele affiziert den Körper“ aber für falsch.

Formale Detailanalyse

Beide Rekonstruktionen bedienen sich der klassischen Aussagenlogik.

Rekonstruktion 1

Abkürzungsverzeichnis für Fall 1 (Körper affiziert Seele):

p: Unkörperliches affiziert Körperliches.
q: Körperliches affiziert Unkörperliches.
r: Der Körper affiziert die Seele.
r*: Die Seele affiziert den Körper.
s: Die Seele ist ein Körper.

Rekonstruktion 1, Fall 1

1¬(pq)\neg (p \lor q)Prämisse („weder ... noch“)P1
2¬p¬q\neg p \land \neg q1 De MorganZ1
3¬q\neg q2 aussagenlogischZ2-Fall_1
4¬q(¬s¬r)\neg q \to (\neg s \to \neg r)(Brücken-)PrämissePB-1
5¬s¬r\neg s \to \neg r3,4 modus ponensZ3-Fall_1
6rrPrämisseP2-Fall_1
7ss5,6 modus tollens-VarianteK

Rekonstruktion 1, Fall 2

1¬(pq)\neg (p \land q)Prämisse („weder ... noch“)P1
2¬p¬q\neg p \land \neg q1 De MorganZ1
3¬p\neg p2 aussagenlogischZ2-Fall_1
4¬p(¬s¬r\*)\neg p \to (\neg s \to \neg r\*)(Brücken-)PrämissePB-1
5¬s¬r\*\neg s \to \neg r\*3,4 modus ponensZ3-Fall_1
6r\*r\*PrämisseP2-Fall_1
7ss5,6 modus tollens-VarianteK

Rekonstruktion 2, der Fall mit M2-Fall_1

Erweiterung des Abkürzungsverzeichnisses:

v: Der Körper ist verletzt.
l: Die Seele leidet

1¬(pq)\neg (p \lor q)Prämisse („weder ... noch“)P1
2¬p¬q\neg p \land \neg q1 De MorganZ1
3¬q\neg q2 aussagenlogischZ2-Fall_1
4¬q(¬s¬r)\neg q \to (\neg s \to \neg r)(Brücken-)PrämissePB-1
5¬s¬r\neg s \to \neg r3,4 modus ponensZ3-Fall_1
6vlv \to lPrämisseM2-Fall_1
7(vl)r(v \to l) \to r(Brücken-)PrämisseBP-M2-Fall_1
8rr6,7 modus ponensZ4-M2-Fall_1
9ss5,6 modus tollens-VarianteK

Literaturangaben

  • Arnim, Hans von (1964) [1905]: Stoicorum Veterum Fragmenta. Bd. I. Stuttgart: Teubner.
  • Anthony A. Long/David N. Sedley (1987): The Hellenistic Philosophers. Cambridge: Cambridge University Press.
  • Niko Strobach (2019), Einführung in die Logik. WBG: Darmstadt.