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Eine Rekonstruktion getaggt mit "James"

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Die Frage, worin Emotionen essenziell bestehen, ist von hoher Bedeutung für die Philosophie des Geistes. William James‘ Theorie gibt eine bestechend simple Antwort auf diese Frage: Emotionen bestehen aus nichts weiter als Gefühlen von Körperreaktionen, wie zum Beispiel den Gefühlen von steigendem Herzschlag und rauschendem Blut im Fall von Angst. Hier wird James‘ Subtraktions-Argument rekonstruiert, das sein zentrales Argument für seine Körpergefühlstheorie der Emotionen darstellt. Sowohl James‘ Theorie als auch das Substraktions-Argument haben weitreichenden und fortdauernden Einfluss auf die philosophische und die psychologische Forschung zu Emotionen ausgeübt.

Bibliographische Angaben

William James, "What is an Emotion?", Mind 9/34 (1884), 188-205. [PhilPapers] [DOI]

Textstelle

Ich fahre nun damit fort, den entscheidenden Punkt meiner gesamten Theorie hervorzuheben, nämlich diesen: Wenn wir uns eine starke Emotion vorstellen und dann versuchen, aus unserem Bewusstsein davon alle Gefühle ihrer charakteristischen körperlichen Symptome zu abstrahieren, stellen wir fest, dass nichts übrig bleibt, kein "Bewusstseins-Stoff", aus dem die Emotion konstituiert werden könnte, und dass nur ein kalter und neutraler Zustand intellektueller Wahrnehmung übrig bleibt. [...] Was für eine Art von Angstgefühl übrig bliebe, wenn weder das Gefühl eines beschleunigten Herzschlags noch einer flachen Atmung, weder zitternder Lippen noch geschwächter Glieder, weder einer Gänsehaut noch von Eingeweidebewegungen vorhanden wäre, ist völlig unmöglich zu denken. [...][D]ie Emotion ist nichts anderes als das Gefühl dieser [...] körperlichen Auswirkungen.

(nach James, a.a.O., S. 193 f. Übersetzung LD)

Argumentrekonstruktion

James‘ Argumentation lässt sich als ein Schluss von drei Prämissen (1, 2 und 4) auf die zu begründende Konklusion, die seine Körpergefühlstheorie der Emotionen ausdrückt, rekonstruieren.

  1. Wir können uns nicht vorstellen, dass Emotionen ohne Körpergefühle auftreten.
  2. Wenn wir uns nicht vorstellen können, dass F‘s ohne G‘s auftreten, dann ist G notwendig für F.
  3. Körpergefühle sind notwendig für Emotionen. (Zwischenkonklusion, folgt aus 1 und 2)
  4. Wenn Körpergefühle notwendig sind für Emotionen, dann sind Emotionen nichts weiter als Körpergefühle.

    1. Emotionen sind nichts weiter als Körpergefühle (Folgt aus 3 und 4).

Erläuterung

In der angegebenen Form ist James‘ Argument gültig. Die erste Prämisse artikuliert James‘ Gedanken, dass keine Emotion übrigbleibt, sobald wir Körpergefühle – wie die Gefühle des pochenden Herzschlags und des Zitterns, wenn wir uns fürchten – in der Vorstellung abziehen. Die zweite Prämisse basiert auf der Annahme, dass Unvorstellbarkeit von etwas – hier Emotion ohne Körpergefühle – Unmöglichkeit impliziert. Prämisse 3 besagt, dass Körpergefühle notwendig für Emotionen sind, lässt jedoch zu, dass nicht jede Emotion ein bestimmtes Körpergefühl verlangt, sondern verschiedene Arten von Körpergefühlen dieselbe Art von Emotion möglich machen können. Prämisse 4 besagt, dass wir aus der Tatsache, dass Körpergefühle notwendig für Emotionen sind, sogar schließen können, dass Emotionen sich in Körpergefühlen erschöpfen. Das heißt, es wird ausgeschlossen, dass Emotionen noch weitere unabhängige Bestandteile haben könnten. Eine mögliche Begründung für diese Prämisse ist eine Sparsamkeits-Überlegung: Wenn die Annahme weiterer Bestandteile von Emotionen neben Körpergefühlen nicht notwendig ist, vielleicht sollten wir dann ganz darauf verzichten, um eine möglichst einfache Theorie zu gewinnen? Aussage 5 drückt James‘ Theorie der Emotionen aus: Gemäß der Körpergefühlstheorie sind Emotionen einzig und allein Körpergefühle. Ich verstehe dies hier als Token-Identitätsthese, wonach jedes Vorkommnis einer Emotion mit Vorkommnissen einer bestimmten Reihe an Körpergefühlen identisch ist. Es wäre möglich, eine sogar noch stärkere Typen-Identitätsthese zu vertreten, wonach die Eigenschaft, eine bestimmte Emotion zu haben (z.B. Angst), mit der Eigenschaft identisch ist, bestimmte Körpergefühle zu haben (z.B. Zittern und laut pochendes Herz). Eine Herausforderung für die zweite Theorie wäre jedoch, dass dieselbe Art von Emotion (Angst) womöglich nicht immer von denselben Arten von Körpergefühlen begleitet wird.

Kritik

Obgleich James‘ „Subtraktions-Argument“ von vielen PhilosophInnen zustimmend aufgegriffen wurde, bietet es viel Angriffsfläche. Prämisse 1 kann mit Verweis auf Fälle von fast vollständig gelähmten Personen angegriffen werden, deren Vermögen zu Körpergefühlen weitreichend eingeschränkt ist und die dennoch über komplexe emotionale Vermögen verfügen (Cobos et al. 2002). Diese könnten Fälle von Emotionen ohne Körpergefühle darstellen. Zudem haben viele Philosophen berichtet, dass sie sehr wohl fähig seien, sich Emotionen vorzustellen, die nicht von Körpergefühlen begleitet werden (Goldie 2000, S. 52). Nicht nur das, sondern es existiert empirische Evidenz, dass philosophische Laien überwiegend der Auffassung sind, dass ihre Emotionen auch ohne Körpergefühle auftreten könnten (Díaz 2022). Eine abschließende Frage ist, ob Prämisse 1 und folglich James‘ Theorie sich auch auf sogenannte „kalte“ Emotionen wie Bewunderung, Nostalgie oder Neugierde erstreckt, die weniger direkt mit Körpergefühlen verknüpft zu sein scheinen. Die Wahrheit von Prämisse 2 hängt vor allem von der Frage ab, ob Unvorstellbarkeit einen hinreichenden Grund liefert, von Unmöglichkeit auszugehen (Chalmers 2002). Ein Kritiker könnte James vorwerfen, dasjenige zu begehen, was Daniel Dennett „des Philosophen grundlegendste[n] Fehler“ nannte: „ein Versagen der Vorstellungskraft für eine Einsicht in die Notwendigkeit zu halten“ (Dennett 1995, S. 175). Ein Szenario, das James‘ Annahme besonders bedroht, ist die Möglichkeit unbewusster Emotion. Falls es Emotionen geben kann, die nicht bewusst erlebt werden, scheint es plausibel zu sein, dass solche Emotionen existieren könnten, auch wenn wir sie uns nicht vorstellen können, zumindest nicht im Sinne eines imaginativen Vors-Innere-Auge-Rufens. Prämisse 4 verlangt ein Argument dafür, dass keine andere Eigenschaft als weiterer Bestandteil von Emotionen infrage kommt oder sogar notwendig ist, um die Vielfalt der Rollen, die Emotionen in unserem Leben spielen, zu erklären. Ironischerweise spricht James selbst davon, dass „ein kalter und neutraler Zustand intellektueller Wahrnehmung übrig bleibt“, wenn man Körpergefühle von Emotionen abzieht. Daher legt James‘ eigenes Gedankenexperiment nahe, dass Emotionen zusätzlich auch eine intellektuelle, Urteils-ähnliche Komponente aufweisen könnten. Diese Auffassung ist von James weitgehend außer Acht gelassen worden, war jedoch nachfolgend für die Emotionsforschung von hoher Bedeutung (Teroni 2023). Die vorhergehenden Überlegungen sind Herausforderungen für James‘ Theorie, werden allerdings bereits in James‘ ursprünglichem Aufsatz berührt und teils sogar direkt angesprochen.

Literaturangaben

David J. Chalmers, "Does conceivability entail possibility?", in Tamar Gendler und John Hawthorne (Hrsg.), Conceivability and Possibility, 145–200. Oxford 2002. Pilar Cobos, María Sánchez, Carmen Garcı́a, María Nieves Vera, und Jaime Vila, "Revisiting the James versus Cannon debate on emotion: startle and autonomic modulation in patients with spinal cord injuries", in Biological Psychology 61/3 (2002), 251–269. Daniel C. Dennett, Darwin’s Dangerous Idea: Evolution and the Meanings of Life, New York 1995. Rodrigo Díaz, "Emotions and the body. Testing the subtraction argument", in Philosophical Psychology 35/1 (2022), 47–65. Peter Goldie, The Emotions: A Philosophical Exploration. Oxford 2002. Fabrice Teroni, "Evaluative theories in psychology and philosophy of emotion", in Mind & Language, 38/1 (2023), 81–97.