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Carnaps Scheinprobleme

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Rudolf Carnaps philosophisches Programm des logischen Empirismus sieht in empirischen Daten die Grundlage der Wissenschaft und des wissenschaftlichen Sinns. Carnaps Text zu den sogenannten „Scheinproblemen“ kommt daher die Funktion zu, eine Abgrenzung vorzunehmen zwischen Problemen in der Philosophie, die als sinnvoll, und solchen, die als sinnlos erachtet werden. Ein besonders einschlägiger Textabschnitt ist hierbei der, in welchem Carnap die wissenschaftliche Sinnlosigkeit mittels eines Gedankenexperiments mit dem Fehlen eines Erfahrungsbezugs in Verbindung bringt. Durch eine formale Rekonstruktion des darin enthaltenen Arguments lässt sich besser verstehen, ob und inwiefern Carnaps Programm Erfolg darin hat, eine seiner grundlegenden Thesen ausreichend logisch zu untermauern.

Bibliographische Angaben

Rudolf Carnap, Scheinprobleme in der Philosophie, S. 60—64, 1928. [PhilPapers]

Textstelle

Die Textstelle erstreckt sich über mehrere Seiten und wurde für den Zweck dieser Rekonstruktion stark gekürzt.

§9. Die Thesen des Realismus und des Idealismus. [ \ldots ]

Hier soll nicht die Frage gestellt werden, welche der beiden Thesen recht hat. [ \ldots ] Es soll vielmehr die tieferliegende Frage aufgeworfen werden, ob die genannten Thesen überhaupt einen wissenschaftlichen Sinn haben, ob sie überhaupt einen Inhalt haben, zu dem die Wissenschaft dann zustimmend oder ablehnend Stellung nehmen könnte. [ \ldots ]

Nach unseren Überlegungen bedeutet die Frage nach dem Sinn: sprechen die Thesen einen Sachverhalt aus (gleichviel, ob einen bestehenden oder nicht bestehenden), oder sind es vielleicht bloße Scheinaussagen, entstanden aus der unausführbaren Absicht, begleitende Gegenstandsvorstellungen in Aussagen auszudrücken, als seien es Sachverhaltsvorstellungen. Wir werden finden, daß dies letztere der Fall ist, daß also die Thesen keinen Inhalt haben, gar keine Aussagen sind; damit fällt dann jene Frage der Gültigkeit der Thesen weg. Die Wissenschaft kann in der Realitätsfrage weder bejahend noch verneinend Stellung nehmen, da die Frage keinen Sinn hat. [ \ldots ]

Wenn zwei Geographen, ein Realist und ein Idealist, ausgeschickt werden, um die Frage zu entscheiden, ob ein an einer bestimmten Stelle in Afrika vermuteter Berg nur legendär sei oder wirklich existiere, so kommen sie beide zu dem gleichen (positiven oder negativen) Ergebnis. Denn für den Begriff der Wirklichkeit in diesem Sinne -- wir wollen ihn als »empirische Wirklichkeit« bezeichnen, -- liegen in Physik und Geographie bestimmte Kriterien vor, die unabhängig von dem philosophischen Standpunkt des Forschers eindeutig zu einem bestimmten Ergebnis führen. [ \ldots ] In allen empirischen Fragen herrscht Einigkeit. Die Wahl des philosophischen Standpunktes hat also keinen inhaltlichen Einfluß auf die Naturwissenschaft; [ \ldots ]

Der Gegensatz zwischen den beiden Forschern tritt erst auf, wenn sie nicht mehr als Geographen sprechen, sondern als Philosophen, wenn sie die übereinstimmend gefundenen, empirischen Ergebnisse philosophisch interpretieren. [ \ldots ]

Die Divergenz zwischen den beiden Forschern liegt nicht auf empirischem Gebiete; denn im Empirischen sind ja beide völlig einig. Die beiden Thesen, die hier einander widerstreiten, liegen jenseits der Erfahrung und sind daher nicht sachhaltig; [ \ldots ]

Da uns nun die Sachhaltigkeit als das Kriterium der sinnvollen Aussagen gilt, so kann weder die These des Realismus von der Realität der Außenwelt, noch die des Idealismus von der Nichtrealität der Außenwelt als wissenschaftlich sinnvoll anerkannt werden. Das besagt nicht: die beiden Thesen seien falsch; sondern: sie haben überhaupt keinen Sinn, in Bezug auf den die Frage, ob wahr oder falsch, gestellt werden könnte.

Argumentrekonstruktion

Carnaps Argument beginnt mit der Gegenüberstellung zweier metaphysischer Ansichten. Auf der einen Seite steht der Realismus, der die Existenz der Außenwelt annimmt. Auf der anderen steht der Idealismus, der diese Existenz bestreitet. Carnap möchte zeigen, dass die Frage nach der Richtigkeit einer dieser Ansichten ein Scheinproblem ist — und somit kein echtes Problem. Er argumentiert für diese Ansicht, indem er durch ein Gedankenexperiment zeigt, dass die genannten Theorien jenseits der Erfahrung liegen und daher als wissenschaftlich sinnlos gelten müssen.

Zwar bezieht sich Carnap auf den Realismus und den Idealismus, sowie auf das spezielle Beispiel eines Berges, jedoch kann man das Argument darüber hinaus verallgemeinern auf alle philosophischen Theorien, die sich auf die Beschaffenheit der Außenwelt jenseits des empirisch Wahrnehmbaren beziehen.

Da Carnaps Argument nicht bereits in einer logisch gültigen Form gegeben ist, muss man die einzelnen Thesen für die Formalisierung erst aus seinen Ausführungen rekonstruieren. Dies werde ich im Folgenden tun.

Einige der Aussagen in der Textstelle haben lediglich die Funktion, bestimmte Begriffe zu definieren, wenn auch nur implizit. So werden in den folgenden drei Textausschnitten die Begriffe der wissenschaftlichen Sinnhaftigkeit und der Sachhaltigkeit zueinander in Verbindung gebracht, sowie zu der Idee, dass eine Theorie jenseits der Erfahrung liegt:

„Nach unseren Überlegungen bedeutet die Frage nach dem Sinn: sprechen die Thesen einen Sachverhalt aus [?]

„Die Divergenz zwischen den beiden Forschern liegt nicht auf empirischem Gebiete; denn im Empirischen sind ja beide völlig einig. Die beiden Thesen, die hier einander widerstreiten, liegen jenseits der Erfahrung und sind daher nicht sachhaltig;“

„Da uns nun die Sachhaltigkeit als das Kriterium der sinnvollen Aussagen gilt, so kann weder die These des Realismus von der Realität der Außenwelt, noch die des Idealismus von der Nichtrealität der Außenwelt als wissenschaftlich sinnvoll anerkannt werden.“

Zusammengefasst kann man die in diesen Textausschnitten enthaltenen Gedanken folgendermaßen darstellen, wobei die Theorie, um die es geht, mit T abgekürzt wird:

P1: Wenn T nicht sachhaltig ist, dann ist T nicht wissenschaftlich sinnvoll.

P2: Wenn T jenseits der Erfahrung liegt, dann ist T nicht sachhaltig.

Aus diesen beiden Sätzen folgt also, dass eine Theorie, die jenseits der Erfahrung liegt, nicht wissenschaftlich sinnvoll ist.

Nun muss man natürlich wissen, was es bedeutet, dass eine Theorie oder ihre Thesen jenseits der Erfahrung liegen. Im Beispiel der zwei Geographen kann man das daran erkennen, dass es keine empirischen Thesen gibt, die den Realismus und den Idealismus unterscheiden würden, weil sie etwa nur mit der einen, nicht aber mit der anderen Theorie kompatibel wären. Wenn eine Theorie sich also nicht von ihrem Gegenteil durch empirische Thesen unterscheiden lässt, dann sagt sie nichts über empirische Thesen aus und liegt daher jenseits der Erfahrung.

Es ergibt sich allgemein:

P3: Wenn T keine Aussagen über empirische Thesen macht, dann liegt T jenseits der Erfahrung.

P4: Wenn es keine empirische These gibt, sodass sich T diesbezüglich von nicht-T unterscheidet, dann macht T keine Aussagen über empirische Thesen.

Dass sich der Realismus und der Idealismus tatsächlich nicht durch empirische Thesen unterscheiden lassen, folgt intuitiv aus dem Gedankenexperiment:

P5: Es gibt keine empirische These, sodass sich der Realismus diesbezüglich vom Idealismus unterscheidet.

Da hier angenommen wird, dass der Realismus und der Idealismus gegensätzliche Theorien sind (dazu mehr unten im Kommentar), gilt dadurch auch, dass der Realismus sich von seinem Gegenteil nicht durch empirische Thesen unterscheiden lässt. Somit kann zunächst aus P4 und P5 mittels Modus Ponens eine Zwischenkonklusion Z1 gezogen werden:

Z1: Der Realismus macht keine Aussagen über empirische Thesen.

Daraus folgt wiederum mittels Modus Ponens und P3:

Z2: Der Realismus liegt jenseits der Erfahrung.

Weiterhin kann man daraus mit P2 mittels Modus Ponens herleiten:

Z3: Der Realismus ist nicht sachhaltig.

Auf die gleiche Weise folgt daraus und aus P1:

K: Der Realismus ist nicht wissenschaftlich sinnvoll.

Die vollständige Struktur des Arguments ist hier noch einmal zusammengefasst:

P1Wenn T nicht sachhaltig ist, dann ist T nicht wissenschaftlich sinnvoll.Prämisse (Definition)
P2Wenn T jenseits der Erfahrung liegt, dann ist T nicht sachhaltig.Prämisse (Definition)
P3Wenn T keine Aussagen über empirische Thesen macht, dann liegt T jenseits der Erfahrung.Prämisse (Definition)
P4Wenn es keine empirische These gibt, sodass sich T diesbezüglich von nicht-T unterscheidet, dann macht T keine Aussagen über empirische Thesen.Prämisse (Definition)
P5Es gibt keine empirische These, sodass sich der Realismus diesbezüglich vom Idealismus unterscheidet.Prämisse (Gedankenexperiment)
Z1Der Realismus macht keine Aussagen über empirische Thesen.P4, P5, Modus Ponens
Z2Der Realismus liegt jenseits der Erfahrung.P3, Z1, Modus Ponens
Z3Der Realismus ist nicht sachhaltig.P2, Z2, Modus Ponens
KDer Realismus ist nicht wissenschaftlich sinnvoll.P1, Z3, Modus Ponens

Man kann für die wissenschaftliche Sinnlosigkeit des Idealismus auf die gleiche Weise argumentieren, indem man einfach Realismus und Idealismus füreinander substituiert.

Kommentar

Die formale Struktur und etwaige implizite Annahmen des Arguments sind teilweise nicht eindeutig aus dem Text erkennbar, sodass bei der Formalisierung manches dazu erschlossen werden musste. Dennoch kann man Carnaps gültiges Argument aus seinen Ausführungen rekonstruieren.

Damit Carnaps Argument gültig ist, muss es eine logische Struktur aufweisen, in welcher die Wahrheit der Prämissen durch logische Schlussregeln unweigerlich zur Wahrheit der Konklusion führt. Dass dies der Fall ist, wurde bereits gezeigt, denn ab Z1 folgen alle Sätze mittels Modus Ponens aus den vorherigen Sätzen. Da es sich hierbei um eine logische Schlussregel handelt, ist das Argument gültig.

Die Prämissen fungieren hier eher als Definitionen der Begriffe „wissenschaftlich sinnvoll", „sachhaltig", und „jenseits der Erfahrung", sowie der Eigenschaft einer Theorie, keine Aussagen über empirische Thesen zu machen. In diesen Definitionen ist jeweils der Antezedenz der einen Prämisse der Konsequent einer anderen, sodass wie bei einer Kettenreaktion der Konsequent von P1 folgt, sobald der Antezedenz von P4, nämlich P5, festgestellt wird.

Die Prämisse P5 wird durch das Gedankenexperiment motiviert und ist daher vielleicht keine bloße Annahme, sondern eher ein Ergebnis aus der intuitiven Betrachtung des Beispiels. Es wirkt einfach richtig, zu sagen, dass die beiden Geographen sich bezüglich aller empirischen Thesen einig sind. Da sie darüber hinaus den Realismus und den Idealismus vertreten, stehen ihre Ansichten stellvertretend für diese Theorien.

P4 kann dadurch motiviert werden, dass eine Theorie und ihr Gegenteil eine These nur dann gleich bewerten, wenn sie sich beide diesbezüglich enthalten. Ansonsten würde die eine Theorie die These positiv, die andere sie negativ bewerten. Zumindest würde die Aussage der einen Theorie von der gegenteiligen Theorie ins Gegenteil verkehrt werden. Wenn eine Theorie und ihr Gegenteil sich also bezüglich einer These einig sind, dann machen beide bezüglich dieser These keine Aussage. Und wenn sie sich bezüglich aller empirischen Thesen einig sind, dann machen sie über empirische Thesen keine Aussagen.

Um P4 und P5 zu verbinden, muss der Realismus für T und der Idealismus für nicht-T eingesetzt werden. Dafür wird angenommen, dass der Realismus und der Idealismus exakt gegensätzlich sind und somit den Möglichkeitsraum vollständig ausschöpfen. Carnap schreibt in der Einführung zu dieser Textstelle, die gekürzt wurde, dass es sich beim Idealismus um die „Gegenbehauptungen“ zum Realismus handele. Somit kann man diese Annahme für diese Rekonstruktion von Carnaps Argument rechtfertigen, da er die Begriffe „Realismus" und „Idealismus" eben so definiert, dass sie gegensätzlich sind.

Formale Detailanalyse

Das Argument wird hier in Prädikatenlogik formalisiert.

  • rr: Der Realismus.
  • ii: Der Idealismus.
  • TT: Die Menge der Theorien.
  • EE: Die Menge der empirischen Thesen.
  • g(x)g(x): Eine Funktion, die das Gegenteil der Theorie x ausgibt.
  • W(x)W(x): x ist eine wissenschaftlich sinnvolle Theorie.
  • S(x)S(x): x ist eine sachhaltige Theorie.
  • J(x)J(x): x liegt jenseits der Erfahrung.
  • A(x)A(x): x macht Aussagen über empirische Thesen.
  • U(x,y,z)U(x,y,z): x und y unterscheiden sich in ihrer Bewertung von z.
P1xT(¬S(x)¬W(x))\forall x\in T(\neg S(x)\to\neg W(x))Prämisse
P2xT(J(x)¬S(x))\forall x\in T(J(x)\to\neg S(x))Prämisse
P3xT(¬A(x)J(x))\forall x\in T(\neg A(x) \to J(x))Prämisse
P4xT(¬yE(U(x,g(x),y))¬A(x))\forall x\in T(\neg\exists y\in E (U(x,g(x),y)) \to \neg A(x))Prämisse
P5¬yE(U(r,i,y))\neg\exists y\in E (U(r,i,y))Prämisse
Z1¬A(r)\neg A(r)P4, P5, Modus Ponens
Z2J(r)J(r)P3, Z1, Modus Ponens
Z3¬S(r)\neg S(r)P2, Z2, Modus Ponens
K¬W(r)\neg W(r)P1, Z3, Modus Ponens

Die Schreibweise xT\forall x\in T ist vielleicht etwas ungenau, da das Elementsymbol nicht Teil des Alphabets der Prädikatenlogik ist. Eine genauere Schreibweise kann dadurch erreicht werden, dass jeweils durch ein Prädikat T(x) oder E(x) geprüft wird, ob das Objekt den richtigen Typ hat. Da dies aber etwas unübersichtlich geworden wäre, wurde hier die ungenaue Schreibweise quasi als Abkürzung verwendet.

Literaturangaben

Carnap, Rudolf. Scheinprobleme in der Philosophie: das Fremdpsychische und der Realismusstreit, Suhrkamp 1966.