Bibliographische Angaben
Derek Parfit, Reasons and Persons, Oxford 1986, S. 357-361. [Oxford Academic] [DOI]
Textstelle
Parfit entwickelt das Nichtidentitäts-Problem anhand des folgenden Gedankenexperiments:
Stellen wir uns ein […] 14jähriges Mädchen vor. Dieses Mädchen entscheidet sich dafür, ein Kind zu bekommen. Weil sie noch so jung ist, wird sie diesem Kind keinen guten Start ins Leben ermöglichen können. […] Wenn das Mädchen einige Jahre warten würde, würde sie ein anderes Kind bekommen, dem sie einen besseren Start ins Leben ermöglichen könnte. […] Nehmen wir an, wir hätten versucht, das Mädchen davon zu überzeugen, noch einige Jahre zu warten. [Aber wir] sind mit diesem Versuch gescheitert. Das Mädchen bekommt also, wie befürchtet, im Alter von 14 Jahren ein Kind und gibt ihm einen schlechten Start ins Leben. […] Glauben wir, dass es besser gewesen wäre, wenn das Mädchen gewartet hätte […]? Ich persönlich […] habe diese Überzeugung, genauso wie die meisten anderen Leute, die über diesen Fall nachdenken. Aber wir können nicht […] sagen, dass die Entscheidung des Mädchens schlecht für ihr Kind war[,][…] weil in der bestehenden Alternative eben ein anderes Kind geboren worden wäre. Ich werde dieses Problem im Folgenden als Nichtidentitäts-Problem bezeichnen.
(nach Parfit, a.a.O., S. 358 f. Übersetzung DB)
Argumentrekonstruktion
Parfits Argumentation lässt sich als ein Schluss von vier Prämissen (1, 2, 3 und 5) auf die zu begründende Konklusion, die die Nichtidentitäts-Problematik zum Ausdruck bringt, rekonstruieren.
- Es wäre besser gewesen, wenn das Mädchen erst später ein Kind bekommen hätte.
- Das Mädchen hätte ein anderes Kind bekommen, wenn sie erst später ein Kind bekommen hätte.
- Wenn das Mädchen ein anderes Kind bekommen hätte, dann wäre es ihrem Kind nicht besser ergangen.
- Es wäre ihrem Kind nicht besser ergangen, wenn das Mädchen erst später ein Kind bekommen hätte. (Zwischenkonklusion, folgt aus 2, 3)
- Wenn es ihrem Kind nicht besser ergangen wäre, wenn das Mädchen erst später ein Kind bekommen hätte, dann wäre es nicht besser für ihr Kind gewesen, wenn sie erst später ein Kind bekommen hätte.
- Es wäre besser gewesen, wenn das Mädchen erst später ein Kind bekommen hätte und es wäre nicht besser für ihr Kind gewesen, wenn das Mädchen erst später ein Kind bekommen hätte. (Folgt aus 1, 4 und 5)
Kommentar
Die Argumentation von Parfit ist gültig. Sollte sie darüber hinaus auch schlüssig sein, würde sie etablieren, dass eine Entscheidung aus moralischer Sicht besser sein kann, ohne dass sie besser für irgendeine Person ist - schließlich basiert die in Prämisse 1 ausgedrückte moralische Bewertung der Entscheidung des Mädchens allein auf dem antizipierten Leid ihres Kindes (die Idee ist also nicht, dass es besser für das Mädchen oder irgendwelche Angehörigen gewesen wäre, wenn sie sich anders entschieden hätte). Dementsprechend legt Parfits Argumentation den Schluss nahe, dass eine Entscheidung moralisch schlecht sein kann, ohne dass sie schlecht für jemanden ist. Diese Konklusion erscheint nun deshalb problematisch, weil sie der vortheoretisch intuitiven Annahme zuwiderläuft, dass eine spezifische Entscheidung nur dann moralisch falsch sein kann, wenn es jemanden gibt, dem durch diese Entscheidung geschadet wird. In der moralphilosophischen Debatte findet diese Annahme im Rahmen sogenannter personenbezogener (engl. person-affecting) Moraltheorien ihren Ausdruck, die davon ausgehen, dass eine Handlung nur dann moralisch schlecht sein kann, wenn sie schlecht für jemanden ist. Vor dem Hintergrund einer solchen Sichtweise würde das obige Argument zeigen, dass sich aus den Prämissen (1, 2, 3 und 5) ein Widerspruch ergibt und somit mindestens eine Prämisse aufgegeben werden muss.
Eine mögliche Reaktion besteht nun darin, die Konklusion zu akzeptieren - und mithin also dafür zu argumentieren, dass hier lediglich ein scheinbarer Widerspruch zum Ausdruck kommt. Es muss also gezeigt werden, dass die Annahme, dass es moralisch besser gewesen wäre, wenn das Mädchen erst später ein Kind bekommen hätte, völlig vereinbar mit der Annahme ist, dass es nicht besser für ihr Kind gewesen wäre, wenn sie erst später ein Kind bekommen hätte. Eine offensichtliche Möglichkeit besteht hier in der Etablierung einer apersonalen Sichtweise auf Moral, beispielsweise in Form des klassischen Utilitarismus. Der klassische Utilitarismus macht den moralischen Status einer Handlung nämlich lediglich davon abhängig, wie viel Glück und Leid durch diese Handlung verursacht wird – und zwar unabhängig davon, wer dieses Glück oder Leid empfindet (für eine solche Reaktion, siehe etwa Singer 2011, 107–119).
Eine andere Reaktion besteht darin, zu akzeptieren, dass die Konklusion einen Widerspruch ausdrückt. In diesem Fall muss eine der Prämissen aufgegeben werden. So haben etwa einige Autor:innen dafür argumentiert, dass einer Person auch dann durch eine Handlung geschadet werden kann (siehe bspw. Shiffrin 1999, 120–135) bzw. dass eine Handlung auch dann schlecht für eine Person sein kann (siehe bspw. Harman 2009, 139), wenn es dieser Person im Falle einer Unterlassung dieser Handlung überhaupt nicht besser ergangen wäre. Eine solche Sichtweise würde es ermöglichen, Prämisse 5 zurückzuweisen.
Andere Autor:innen haben sich auf Prämisse 1 konzentriert und dafür argumentiert, dass die Entscheidung des Mädchens nicht moralisch problematisch ist. Eine strittige Frage in diesem Zusammenhang ist, ob eine solche Bewertung der Entscheidung des Mädchens nur in Fällen gilt, in denen das Leben ihres Kindes zwar suboptimal, aber immer noch lebenswert ist, oder auch in Fällen, in denen dieses Leben derart beeinträchtigt ist, dass es nicht mehr als lebenswert zu bewerten ist. Während sich einige Autor:innen auf die erste, schwächere These beschränken (siehe etwa Boonin 2008), haben einige auch die zweite, stärkere These vertreten (siehe etwa Heyd 2009).
Obwohl die durch Parfits Argumentation etablierte Problematik auf den ersten Blick einigermaßen abstrakt wirken mag, hat sie dennoch unmittelbare Konsequenzen für unsere moralische Praxis. Ein ebenso offensichtlicher wie prominenter Anwendungskontext ist dabei die Debatte um die moralischen Implikationen des Klimawandels: In einem Szenario, in dem es der Menschheit noch gelingt, rechtzeitig klimaschädliche Emissionen hinreichend stark zu reduzieren, werden – aufgrund veränderten Mobilitäts- und Konsumverhaltens – andere Paare zu anderen Zeitpunkten Nachkommen zeugen als in einem Szenario, in dem klimaschädliche Emissionen nicht hinreichend reduziert werden. Das hat zur Konsequenz, dass in beiden Szenarien zukünftig jeweils verschiedene Populationen von Menschen existieren werden. Das wiederum bedeutet, dass es den zukünftigen Personen, die im Falle des schlechten Szenarios unter den Folgen des Klimawandels zu leiden haben, überhaupt nicht besser ergangen wäre, wenn ihre Vorfahren rechtzeitig klimaschädliche Emissionen reduziert hätten. Eine Beantwortung der Frage, ob und warum der Klimawandel überhaupt problematisch ist, hängt also auch von einer Bewertung und Lösung des Nichtidentitäts-Problems ab (für eine Diskussion dieser klimaethischen Implikationen des Nichtidentitäts-Problems siehe etwa Meyer 2018).
Literaturangaben
David Boonin, „How to Solve the Non-Identity Problem“, in Public Affairs Quarterly 22/2 (2008), 129–159.
Elizabeth Harman, „Harming as Causing Harm,“ in Melinda Roberts und David Wasserman (Hrsg.), Harming Future Persons. Ethics, Genetics and the Nonidentity Problem, 137-154. Dordrecht 2009.
David Heyd, „The Intractability of the Nonidentity Problem“, in Melinda Roberts und David Wasserman (Hrsg.), Harming Future Persons. Ethics, Genetics and the Nonidentity Problem, 3-25. Dordrecht 2009.
Kirsten Meyer, Was schulden wir zukünftigen Generationen? Herausforderung Zukunftsethik, Ditzingen 2018.
Seana Shiffrin, „Wrongful Life, Procreative Responsibility, and the Significance of Harm“, in Legal Theory 5 (1999), 117–48.
Peter Singer, Practical Ethics, 3rd ed., Cambridge 2011.