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7 Rekonstruktionen getaggt mit "Philosophie"

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Epikur (fl. 300 v.Chr.) argumentierte dafür, dass Gott nicht fürsorglich ist, daher, dass es Übel in der Welt gibt und Gott sie beseitigen könnte. Das ist uns durch Laktanz (fl. 300 n.Chr.) überliefert worden. Epikur begründete somit eine Lösung des Theodizee-Problems, wie es einen perfekten Gott geben kann, wo es doch Leid in der Welt gibt. Epikurs Argument wird im Folgenden informell mit zusätzlichen Zwischenkonklusionen rekonstruiert. Dem Kommentar folgt eine aussagenlogische Formalisierung. Obwohl Laktanz das Argument bereits klar und einfach wiedergegeben hat, ist es vorteilhaft, das Argument detailliert zu rekonstruieren. Einer der Vorteile ist, dass sich verschiedene Lösungen des Theodizee-Problems aufs rekonstruierte Argument beziehen lassen.

Bibliographische Angaben

Lactantius, De ira dei 13,20–22.

Textstelle

Laktanz schreibt (a. a. O., 13,20–22; meine Übersetzung):

LateinDeutsch
[1] quod si haec ratio vera est, quam Stoici nullo modo videre potuerunt, dissolvitur etiam illud argumentum Epicuri.[1] Wenn dieser Grund wahr ist, den die Stoiker auf keine Weise sehen konnten, dann ist auch folgendes Argument Epikurs entkräftet.
[2] „deus“ inquit „aut vult tollere mala et non potest aut potest et non vult aut neque vult neque potest aut et vult et potest.[2] „Gott“, sagt er, „will entweder die Übel beseitigen und kann es nicht, oder er kann es und will nicht, oder weder will noch kann er es, oder sowohl will als auch kann er es.
[3] si vult et non potest, inbellicus est, quod in deum non cadit;[3] Wenn er es will und nicht kann, dann ist er schwach. Das trifft auf Gott nicht zu.
[4] si potest et non vult, invidus, quod aeque alienum est a deo;[4] Wenn er es kann und nicht will, ist er nicht fürsorglich. Auch das liegt Gott fern.
[5] si neque vult neque potest, et invidus et inbellicus est ideoque nec deus;[5] Wenn er es weder will noch kann, ist er sowohl nicht fürsorglich als auch schwach und daher nicht Gott.
[6] si et vult et potest, quod solum deo convenit, unde ergo sunt mala aut cur illa non tollit? “[6] Wenn er es sowohl will als auch kann – das allein passt zu Gott –, woher kommen dann bitte die Übel bzw. weshalb beseitigt er sie nicht? “
[7] scio plerosque philosophorum qui providentiam defendunt, hoc argumento perturbari solere et invitos paene adigi ut deum nihil curare fateantur, quod maxime quaerit Epicurus.[7] Ich weiß, dass die meisten der Philosophen, die Gottes Fürsorge verteidigen, von diesem Argument für gewöhnlich ganz durcheinandergebracht werden und sich wider Willen fast dazu drängen lassen zuzugeben, dass Gott nicht fürsorglich ist – worauf Epikur vor allem abzielt.

Argumentrekonstruktion

Das bloße Argument, das Epikur vorzubringen scheint, rekonstruiere ich mit sieben Prämissen und der Konklusion, dass Gott nicht fürsorglich ist. (Die rechte Spalte verweist auf die jeweiligen Sätze in der oben zitierten Textstelle.)

P1:Entweder will Gott die Übel beseitigen, aber kann nicht, oder er kann es, aber will nicht, oder er will es nicht und kann es nicht, oder er will und kann es.[2]
P2:Wenn Gott die Übel beseitigen will, aber nicht kann, dann ist er schwach.[3]
P3:Es ist nicht so, dass Gott schwach ist.[3]
P4:Wenn Gott die Übel beseitigen kann, aber nicht will, dann ist er nicht fürsorglich.[4]
P5:Wenn Gott die Übel nicht beseitigen will und nicht kann, dann ist er sowohl nicht fürsorglich als auch schwach.[5]
P6:Wenn Gott die Übel beseitigen will und kann, dann gibt es keine Übel.[6, impl]
P7:Es ist nicht so, dass es keine Übel gibt.[6, impl]
K:Gott ist nicht fürsorglich. (AL: P1–P7)[7]

Mittels zusätzlichen Zwischenkonklusionen und der Angabe von Schlussregeln will ich nun leichter erkennen lassen, dass die Konklusion deduktiv gültig aus den Prämissen folgt. Für einen besseren Flow schiebe ich die vierte Prämisse ans Ende.

P1:Entweder will Gott die Übel beseitigen, aber kann nicht, oder er kann es, aber will nicht, oder er will es nicht und kann es nicht, oder er will und kann es.[2]
P2:Wenn Gott die Übel beseitigen will, aber nicht kann, dann ist er schwach.[3]
P3:Es ist nicht so, dass Gott schwach ist.[3]
Z1:Es ist nicht so, dass Gott die Übel beseitigen will, aber nicht kann. (m.t.: P2, P3)[impl]
Z2:Entweder kann Gott die Übel beseitigen, aber will nicht, oder er will es nicht und kann es nicht, oder er will und kann es. (DS: P1, Z1)[impl]
Z3:Es ist nicht so, dass Gott sowohl nicht fürsorglich ist als auch schwach. (AL: P3)[impl]
P5:Wenn Gott die Übel nicht beseitigen will und nicht kann, dann ist er sowohl nicht fürsorglich als auch schwach.[5]
Z4:Es ist nicht so, dass Gott die Übel nicht beseitigen will und nicht kann. (m.t.: Z3, P5)[impl]
Z5:Entweder kann Gott die Übel beseitigen, aber will nicht, oder er will und kann es. (DS: Z2, Z4)[impl]
P6:Wenn Gott die Übel beseitigen will und kann, dann gibt es keine Übel.[6, impl]
P7:Es ist nicht so, dass es keine Übel gibt.[6, impl]
Z6:Es ist nicht so, dass Gott die Übel beseitigen will und kann. (m.t.: P6, P7)[impl]
Z7:Gott kann die Übel beseitigen, aber will nicht. (DS: Z5, Z6)[impl]
P4:Wenn Gott die Übel beseitigen kann, aber nicht will, dann ist er nicht fürsorglich.[4]
K:Gott ist nicht fürsorglich. (m.p.: Z7, P4)[7]

Kommentar

Was ist dieser Grund, auf den Laktanz zu Beginn unserer Textstelle zurückweist? Zuvor (a. a. O., 12,5–13,19) ist Laktanz der Frage nachgegangen, weshalb Gott die Welt geschaffen habe. Er befürwortet die Auffassung der Stoiker, dass Gott die Welt für uns Menschen geschaffen hat. Immerhin lasse sich feststellen, dass alles in der Welt uns irgendwie nützt. Dann diskutiert er den Einwand der Akademiker, dass es Übel in der Welt gibt, die uns schaden. Er verwirft die Entgegnung der Stoiker, wir würden den Nutzen dieser Übel nur noch nicht kennen, es würde ihn aber geben. Stattdessen sei so zu begründen: Es gibt Übel in der Welt, weil Gott die Menschen wie ein Abbild von sich und somit mit Vernunft begabt geschaffen hat; doch es kann niemand mit Vernunft begabt sein, ohne dass es Güter und Übel in der Welt gibt, die er mittels seiner Vernunft unterscheiden kann. Das ist der Grund, von dem Laktanz sagt, er sei den Stoikern entgangen.

Die erste bemerkenswerte Schwierigkeit daran, Epikurs1 Argument zu rekonstruieren, mag darin bestehen, dessen Konklusion zu identifizieren. Denn das Zitat, auf das Laktanz mit „folgendes Argument Epikurs“ [1] vorverweist und mit „von diesem Argument“ [7] zurückweist, scheint keine Konklusion zu nennen, für die Epikur argumentiert. Vielmehr deutet sich im Zitat ein Oktalemma an: acht Aussagen, von denen jede für sich betrachtet wahr zu sein scheint, die aber nicht zusammen wahr sein können. Denn neben unseren Prämissen P1–P7 findet sich die Aussage, dass Gott fürsorglich ist [4; vgl. 5 & 6]. Das ist aber das kontradiktorische Gegenteil unser Konklusion K, die deduktiv gültig aus den Prämissen folgt. Wir müssen über das Zitat hinauslesen, um von Laktanz zu erfahren, dass Epikur dafür argumentiert hat, dass Gott nicht fürsorglich ist [7].

Ist die Konklusion erst einmal identifiziert, lässt sich Epikurs Argument leichter rekonstruieren. Die Aussage, dass Gott fürsorglich ist [4; vgl. 5 & 6], dürfen wir wohlwollend als Prämisse ausschließen. (Epikur wird ja nichts Widersprüchliches behaupten wollen.) Während sich die Prämissen P1–P5 ohne nennenswerte Schwierigkeiten rekonstruieren lassen [2–5], wirft das Ende des Zitats ein Problem auf [6]. Hier wird nämlich eine Frage formuliert, jedoch keine Behauptung. Nun versuchen wir aber, wohlwollend ein gültiges Argument zu rekonstruieren; und indem wir die Prämissen P6 und P7 ergänzen, resultiert ein gültiges Argument. Somit sind wir darin gerechtfertigt, die Frage als rhetorische zu interpretieren: Indirekt wird zweierlei behauptet, nämlich die Prämissen P6 und P7.

Eine letzte Schwierigkeit, die wert ist erwähnt zu werden, betrifft meine vereinheitlichende Übersetzung von „invidus esse“ [4 & 5], „nihil curare“ und „providentia“ [7] durch „nicht fürsorglich sein“ bzw. „Fürsorge“. Auf dem Spektrum: jemandem Schlechtes zu wollen (links), weder Gutes noch Schlechtes zu wollen (Mitte) und nur Gutes zu wollen (rechts), ist „invidus esse“ eher dem linken Spektrum zuzuordnen, „nihil curare“ der Mitte und „providentia“ dem rechten Spektrum. Deshalb könnte man die Übersetzung der ersten beiden Phrasen durch „nicht fürsorglich sein“ (links oder Mitte) für unangemessen halten. Ich habe mir diese Übersetzungsfreiheit jedoch zugunsten einer wohlwollenden Rekonstruktion genommen. Nicht nur legt sich Epikur mit P4, P5 und K auf schwächere Thesen fest. Erst auf diese Weise resultiert ein gültiges Argument. Zudem wäre es nicht akkurat, Epikur die Konklusion zu unterstellen, dass Gott missgünstig ist. Immerhin war Epikur der Ansicht, dass es seelenruhige Götter gibt, die sich weder ums Weltgeschehen kümmern noch sich daran beteiligen.2

Die Rekonstruktion mittels Zwischenkonklusionen kommt hauptsächlich mit der Angabe der Schlussregeln modus ponens (m.p.), modus tollens (m.t.) und dem disjunktiven modus tollendo ponens (DS) aus. Die einzelnen Schlüsse will ich hier nicht länger erläutern. Allein: Ich sollte den Kommentar „AL“ an der Zwischenkonklusion Z3 erklären. Dahinter steckt die aussagenlogisch gültige Schlussregel: Daraus, dass es nicht so ist, dass A, darf darauf geschlossen werden, dass es nicht so ist, dass B und A. (Ist ein Konjunkt bereits falsch, dann auch die ganze Konjunktion.) Setzen wir für „A“ ein „Gott ist schwach“ und für „B“ „Gott ist nicht fürsorglich“, erhalten wir die relevante Instanz: Daraus, dass es nicht so ist, dass Gott schwach ist (P3), darf darauf geschlossen werden, dass es nicht so ist, dass Gott sowohl nicht fürsorglich ist als auch schwach (Z3). Dass nur aussagenlogisch gültige Schlussregeln benötigt werden, zeigt, dass das Argument aussagenlogisch gültig ist.

Es lassen sich verschiedene Lösungen des Theodizee-Problems auf unser rekonstruiertes Argument beziehen. Ich will einige beispielhaft nennen. Atheisten, die behaupten, dass es keinen Gott gibt, werden etwas an den Prämissen P1–P6 und der Konklusion auszusetzen haben. So werden sie in der Regel behaupten, der Ausdruck „Gott“ sei, wie er hier gebraucht wird, ein leerer singulärer Term (ein singulärer Term, der nichts bezeichnet). Je nach dem, welche freie Logik sie heranziehen, werden sie manche oder alle der gen. Aussagen für falsch oder zumindest für nicht wahr halten. Hans Jonas würde die dritte Prämisse angreifen, denn: Gott ist nicht allmächtig. Stoiker würden die vierte Prämisse ablehnen: Die Übel haben einen uns (noch) verborgenen Nutzen. Auch Alvin Plantingas Free-Will-Defence würde dort seinen Hebel ansetzen. Leibniz würde gegen die fünfte Prämisse einwenden: Gott hat – allgütig wie er ist, konnte und wollte er nicht anders – bereits die beste aller möglichen Welten geschaffen. Und Spinoza würde zwar Epikur zustimmen, dass Gott nicht fürsorglich ist, aber das Argument für nicht beweiskräftig halten, denn contra P5: Notwendigerweise ist alles, wie es ist, kraft der Macht Gottes.

Kommen wir zu guter Letzt zurück zu Laktanz. Wie entkräftet er nun eigentlich Epikurs Argument? Furchtlos blickt er auf die vierte Prämisse und schreibt (a. a. O., 13,22–23; meine Übersetzung): „Da wir aber den Grund erkannt haben, entkräften wir dieses furchterregende Argument mit Leichtigkeit. Gott kann nämlich tun, was auch immer er will, und weder ist Schwäche in ihm noch ist er ohne Fürsorge. Also kann er die Übel beseitigen, will es aber nicht. Darum ist es trotzdem nicht so, dass er nicht fürsorglich ist. Denn er beseitigt die Übel deshalb nicht, weil er zugleich, wie ich gezeigt habe, Vernunft verliehen hat und mehr des Guten und der Annehmlichkeit in der Vernunft liegt als Unannehmlichkeiten in den Übeln“.

Aussagenlogische Formalisierung

Ich gebrauche eine übliche aussagenlogische Sprache. Atomare Formeln seien: „p“, „q“, „r“, „s“ und „t“. Einfache Aussagen, die im Argument vorkommen, werden gemäß dieser Legende durch eine atomare Formel formalisiert.

  • p: Gott will die Übel beseitigen
  • s: Gott ist schwach
  • q: Gott kann die Übel beseitigen
  • t: Es gibt Übel
  • r: Gott ist fürsorglich

Auf dieser Grundlage formalisiere ich das Argument so.

F.P1:(p¬q)((q¬p)((¬p¬q)(pq)))(p \land \lnot q) \lor ((q \land \lnot p) \lor ((\lnot p \land \lnot q) \lor (p \land q)))
F.P2:(p¬q)s(p \land \lnot q) \rightarrow s
F.P3:¬s\lnot s
F.P4:(q¬p)¬r(q \land \lnot p) \lor \lnot r
F.P5:(¬p¬q)(¬rs)(\lnot p \land \lnot q) \lor (\lnot r \land s)
F.P6:(pq)¬t(p \land q) \lor \lnot t
F.P7:¬¬t\lnot \lnot t
F.K:¬r\lnot r (AL: P1–P7)

Mittels Wahrheitstabelle, Tableau oder Herleitung lässt sich nun beweisen, dass F.K aus der Menge der formalisierten Prämissen F.P1–F.P7 aussagenlogisch folgt. Aber das spare ich uns. Die Wahrheitstabelle hat 32 Zeilen, das Tableau passt auch kaum auf eine Seite und eine Herleitung im Kalkül des natürlichen Schließens ist so nah an der Rekonstruktion inkl. Zwischenkonklusionen, dass sie nichts wirklich Neues bringt.

Literaturangaben

Glei, Reinhold: Et invidus et inbellicus. Das angebliche Epikurfragment bei Laktanz, De ira Dei 13,20–21, in: Vigiliae Christianae 42,1 (1988) 47–58.

Jonas, Hans: Der Gottesbeweis nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1992.

Lactantius: De ira Dei liber. Vom Zorne Gottes, eingeleitet, herausgegeben, übertragen und erläutert von H. Kraft und A. Wlosok, Darmstadt: WBG, 1971.

Leibniz, Gottfried Wilhelm: Essais de Theodicée sur la bonté de Dieu, la liberté de l’homme et l’origine du mal, Amsterdam 1710.

Plantinga, Alvin: God, Freedom, and Evil, Grand Rapids/Michigan: Eerdmans, 1977.

Spinoza, Baruch de: Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt. Neu übersetzt, herausgegeben, mit einer Einleitung versehen von Wolfgang Bartuschat, Hamburg: Meiner, 2015.


  1. Epikurs Urheberschaft ist umstritten. S. Glei 1988.
  2. Für Belege s. Glei 1988.

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Dieses Fragment aus dem Nachlass Friedrich Nietzsches behandelt die Frage nach dem Status des Satzes vom Widerspruch im Besonderen und der Logik im Allgemeinen. Er argumentiert für die Auffassung, dass die Logik keine deskritive, sondern eine normative Rolle spielt.

Bibliographische Angaben

Das nachgelassene Fragment stammt aus dem Jahr 1887 und findet sich in Band 12 der Kritischen Studienausgabe: N 1887, 9[97], KSA 12, S. 389.

Textstelle

Wenn, nach Aristoteles der Satz vom Widerspruch der gewisseste aller Grundsätze ist, wenn er der letzte und unterste ist, auf den alle Beweisführung[en] zurückgehn, wenn in ihm das Princip aller anderen Axiome liegt: um so strenger sollte man erwägen, was er im Grunde schon an Behauptungen voraussetzt. Entweder wird mit ihm etwas in Betreff des Wirklichen, Seienden behauptet, wie als ob er dasselbe anderswoher bereits kennte: nämlich daß ihm nicht entgegengesetzte Prädikate zugesprochen werden können. Oder der Satz will sagen: daß ihm entgegengesetzte Prädikate nicht zugesprochen werden sollen? Dann wäre Logik ein Imperativ, nicht zur Erkenntniß des Wahren, sondern zur Setzung und Zurechtmachung einer Welt, die uns wahr heißen soll. Kurz, die Frage steht offen: sind die logischen Axiome dem Wirklichen adäquat, oder sind sie Maaßstäbe und Mittel, um Wirkliches den Begriff „Wirklichkeit“ für uns erst zu schaffen?… Um das Erste bejahen zu können, müßte man aber, wie gesagt, das Seiende bereits kennen; was schlechterdings nicht der Fall ist. Der Satz enthält also kein Kriterium der Wahrheit, sondern einen Imperativ über das, was als wahr gelten soll.

(Friedrich Nietzsche, N 1887, 9[97], KSA 12, S. 389, Hervorhebungen im Original.)

Argumentrekonstruktion

Nietzsches Argument lässt sich als ein Schluss von drei Prämissen auf die zu begründende Konklusion rekonstruieren. Einige alternative und abgewandelte Rekonstruktionsmöglichkeiten werden im Kommentar diskutiert.

  1. Entweder der Satz vom Widerspruch besagt, dass dem Seienden keine entgegengesetzten Prädikate zugesprochen werden können, oder der Satz vom Widerspruch besagt, dass dem Seienden keine entgegengesetzten Prädikate zugesprochen werden sollen.
  2. Wenn der Satz vom Widerspruch besagt, dass dem Seienden keine entgegengesetzten Prädikate zugesprochen werden können, dann kennen wir das Seiende bereits unabhängig vom Satz vom Widerspruch.
  3. Es ist nicht der Fall, dass wir das Seiende bereits unabhängig vom Satz vom Widerspruch kennen.

  1. Der Satz vom Widerspruch besagt, dass dem Seienden keine entgegengesetzten Prädikate zugesprochen werden sollen. (aus 1-3)

Kommentar

Dieses Fragment beginnt mit einer Motivation der Fragestellung: Welchen Status hat der Satz vom Widerspruch im Besonderen und die Logik im Allgemeinen? Auch wenn Nietzsche zunächst nur von ersterem spricht, deutet die spätere Rede von „logischen Axiomen“ klar darauf hin, dass der Satz vom Widerspruch hier pars pro toto für die Logik als Ganze verstanden werden kann. Auch die einleitende Ausführung zur Stellung dieses Axioms in der Philosophie des Aristoteles spricht für diese Deutung.

Danach wird behauptet, dass in der Frage des Gehalts des Satzes vom Widerspruch genau zwei Alternativen bestehen. Diese Aussage findet sich als ersten Prämisse des rekonstruierten Arguments wieder. Die zweite Prämisse benennt eine Konsequenz der ersten Alternative. Und von dierser wird dann durch die Wendung „was schlechterdings nicht der Fall ist“ klar gesagt, dass sie nicht der Fall ist (Prämisse drei). Doch worin genau besteht die hier verneinte Aussage? Sie besagt, dass wir „das Seiende bereits kennen“. Wie lässt sich das jedoch genauer fassen und wie ist das Wörtchen „bereits“ hier zu verstehen?

In der vorgeschlagenen Rekonstruktion ist dieses Problem so gelöst, dass das Seiende logisch unabhängig vom Satz vom Widerspruch bekannt sein müsste, wenn die erste Alternative der Fall wäre. Und da das wiederum „schlechterdings nicht der Fall ist“, vielleicht da wir den Satz vom Widerspruch immer schon voraussetzen, wenn wir über das Seiende nachdenken, kann die erste Alternative per Modus Tollens ausgeschlossen werden. Dementsprechend folgt am Ende die Wahrheit der zweiten Alternative per Ausschlussprinzip. Eine formale Darstellung findet sich weiter unten.

Nicht nur, aber vor allem bei einem solchen, fragmentarischen Text lassen sich auch einige andere und abgewandelte Rekonstruktionen gut begründen.

Erstens wurde hier ausgelassen, dass Nietzsche auch darauf schließt, dass der Satz vom Widerspruch „also kein Kriterium der Wahrheit“ enthält. Vielleicht ist das durch die Falschheit der ersten Alternative begründet, vielleicht aber auch durch die Wahrheit der zweiten Alternative, auf die hier geschlossen wird. In beiden Fällen ließe sich eine passende Subjunktion als weitere Prämisse ergänzen, um auch auf diese Aussage schließen zu können.

Zweitens wurde hier ebenfalls ausgelassen, dass Nietzsche begründet, dass „die Logik ein Imperativ“ ist. Dies lässt sich vermutlich als Formulierungsvariante der zweiten Alternative verstehen, wenn man unterstellt, dass im Text nicht streng zwischen Imperativen und Sollens-Aussagen unterschieden wird. Eine weitere Möglichkeit wäre es, auch hier schlicht eine passende weitere Prämisse zu ergänzen. Zum Beispiel: „Wenn der Satz vom Widerspruch besagt, dass dem Seienden keine entgegengesetzten Prädikate zugesprochen werden sollen, dann ist die Logik ein Imperativ über das, was uns als wahr gelten soll.“

Drittens schließlich könnte bei dieser Rekonstruktion die zweite Prämisse problematisch erscheinen. Hier wird ein Zusammenhang zwischen einer Aussage über den Gehalt des Satzes vom Widerspruch im „wenn“-Teil und einer Aussage über die Bedingungen unserer Kenntnis des Seienden im „dann“-Teil hergestellt. Aber besteht der Zusammenhang tatsächlich mit der Aussage über den Satz vom Widerspruch und nicht eher mit dem betreffenden Gehalt? Müsste der „wenn“-Teil also nicht entsprechend abgewandelt werden?

An dieser Stelle liegt die Hypothese nahe, dass das Fragment zwar den Gehalt des Satzes vom Widerspruch behandelt, offenbar aber nicht aber an dessen Geltung zweifelt oder diese zumindest nicht thematisiert. Wenn die zweite Prämisse also wie beschrieben abgewandelt wird und dementsprechend auch die erste Prämisse nochmals überarbeitet werden muss, dann ließe sich die dort genannte Alternative wohl am besten als „dann“-Teil einer Subjunktion verstehen, in deren „wenn“-Teil dann die Geltung des Satzes vom Widerspruch als eine Vorbedingung behauptet wird. Diese Vorbedingung erschiene logisch folgerichtig dann ebenfalls in der Konklusion. Diese alternative Rekonstruktionsmöglichkeit sähe insgesamt also so aus:

  1. Wenn der Satz vom Widerspruch wahr ist, dann gilt: entweder es können dem Seienden keine entgegengesetzten Prädikate zugesprochen werden, oder es sollen dem Seienden keine entgegengesetzten Prädikate zugesprochen werden sollen.
  2. Wenn dem Seienden keine entgegengesetzten Prädikate zugesprochen werden können, dann kennen wir das Seiende bereits unabhängig vom Satz vom Widerspruch.
  3. Es ist nicht der Fall, dass wir das Seiende bereits unabhängig vom Satz vom Widerspruch kennen.

  1. Wenn der Satz vom Widerspruch wahr ist, dann sollen dem Seienden keine entgegengesetzten Prädikate zugesprochen werden. (aus 1-3)

Je nach Interpretation ließe sich hier natürlich auch die Prämisse, dass der Satz vom Widerspruch in der Tat wahr ist ergänzen, und am Ende auch darauf schließen, dass dem Seienden in der Tat keine entgegengesetzten Prädikate zugesprochen werden sollen.

Formale Detailanalyse

Der Schluss lässt sich in der ersten Rekonstruktionsform wie folgt formalisieren:

  1. p \lor q
  2. p \rightarrow r
  3. ¬\lnot r

  1. q

Dabei stehen die Buchstaben für die folgenden Aussagen:

  • p: Der Satz vom Widerspruch besagt, dass dem Seienden keine entgegengesetzten Prädikate zugesprochen werden können.
  • q: Der Satz vom Widerspruch besagt, dass dem Seienden keine entgegengesetzten Prädikate zugesprochen werden sollen.
  • r: Wir kennen das Seiende bereits unabhängig vom Satz vom Widerspruch.

In der zweiten Rekonstruktionsform sieht die Formalisierung so aus:

  1. s \rightarrow (p \lor q)
  2. p \rightarrow r
  3. ¬\lnot r

  1. s \rightarrow q

Um die beiden Rekonstruktionen leichter vergleichbar zu machen, steht hier „r“ für dieselbe Aussage wie oben und „p“ und „q“ für diejenigen Aussagen, die oben in „p“ und „q“ eingebettet waren:

  • s: Der Satz vom Widerspruch ist wahr.
  • p: Dem Seienden können keine entgegengesetzten Prädikate zugesprochen werden.
  • q: Dem Seienden sollen keine entgegengesetzten Prädikate zugesprochen werden.
  • r: Wir kennen das Seiende bereits unabhängig vom Satz vom Widerspruch.

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Rekonstruiert wird Kants Argument für die These, dass die Welt einen Anfang in der Zeit hat. Zusammen mit Kants Argument für die zugehörige Antithese -- dass die Welt keinen Anfang in der Zeit hat, -- bildet es die erste Antinomie der reinen Vernunft. (Wir ignorieren hier die entsprechenden Behauptungen für die Begrenztheit/Unbegrenztheit des Raumes.)

Bibliographische Angaben

Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft 1781/1998. Hamburg: Felix Meiner.

Textstelle

Die Welt hat einen Anfang in der Zeit. […] Denn man nehme an, die Welt habe der Zeit nach keinen Anfang: so ist bis zu jedem gegebenen Zeitpunkte eine Ewigkeit abgelaufen und mithin eine unendliche Reihe aufeinander folgender Zustände der Dinge in der Welt verflossen. Nun besteht aber eben darin die Unendlichkeit einer Reihe, daß sie durch sukzessive Synthesis niemals vollendet sein kann. Also ist eine unendliche verflossene Weltreihe unmöglich, mithin ein Anfang der Welt eine nothwendige Bedingung ihres Daseins; welches zuerst zu beweisen war. (A426, B454)

Argumentrekonstruktion

Die Argumentation hat die Form eines Widerspruchbeweises. Aus der Annahme, dass die Welt keinen Anfang in der Zeit habe, wird geschlossen, dass eine unendliche Reihe durch sukzessive Synthesis vollendet wäre, was unmöglich ist. Somit ist die Annahme zu verwerfen.

  1. Die Welt hat keinen Anfang in der Zeit. (Annahme)
  2. Wenn die Welt keinen Anfang in der Zeit hat, dann ist bis zu jedem gegebenen Zeitpunkt eine Ewigkeit abgelaufen.
  3. Wenn bis zu jedem gegebenen Zeitpunkt eine Ewigkeit abgelaufen ist, dann ist eine unendliche Reihe aufeinander folgender Zustände der Dinge in der Welt vollendet.
  4. Wenn eine Reihe von Zuständen unendlich ist, kann sie durch sukzessive Synthesis nicht vollendet werden.
  5. Eine Reihe aufeinander folgender Zustände kann nur durch sukzessive Synthesis vollendet werden. (implizit)

  1. Die Welt hat einen Anfang in der Zeit.

Kommentar

Gemäß einer alternativen Rekonstruktion der obigen Textpassage schließt Kant vorerst auf eine stärkere Konklusion, nämlich die Unmöglichkeit der Annahme, dass die Welt einen Anfang hat, und erst in einem weiteren Schritt aus der Unmöglichkeit der Annahme auf ihre Falschheit. Prämisse 5 ist in der Textstelle nicht explizit. Eine Diskussion des Argumentes müsste insbesondere auf Kants Begriff der „sukzessiven Synthesis“ näher eingehen, um Kants Definition der Unendlichkeit einer Reihe zu erörtern („Nun besteht aber eben darin die Unendlichkeit einer Reihe, daß sie durch sukzessive Synthesis niemals vollendet sein kann.“).

Formale Detailanalyse (optional)

Literaturangaben

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Rekonstruiert wird Kants Argument dafür, dass die Welt keinen Anfang in der Zeit hat. Zusammen mit Kants Argument dafür, dass die Welt einen Anfang in der Zeit hat, bildet es die erste Antinomie der reinen Vernunft.

Bibliographische Angaben

Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft 1781/1998. Hamburg: Felix Meiner.

Textstelle

Die Welt hat keinen Anfang […] Denn man setze: sie habe einen Anfang. Da der Anfang ein Dasein ist, wovor eine Zeit vorhergeht, darin das Ding nicht ist, so muß eine Zeit vorhergegangen sein, darin die Welt nicht war, d. i. eine leere Zeit. Nun ist aber in einer leeren Zeit kein Entstehen irgend eines Dinges möglich: weil kein Teil einer solchen Zeit vor einem anderen irgend eine unterscheidende Bedingung des Daseins, vor die des Nichtseins, an sich hat (man mag annehmen, daß sie von sich selbst, oder durch eine andere Ursache entstehe). Also kann zwar in der Welt manche Reihe der Dinge anfangen, die Welt selber aber kann keinen Anfang haben, und ist also in Ansehung der vergangenen Zeit unendlich. (A427/B455)

Argumentrekonstruktion

  1. Die Welt hat einen Anfang in der Zeit. (Annahme)
  2. Wenn die Welt einen Anfang in der Zeit hat, so muss eine Zeit vorhergegangen sein, darin die Welt nicht war.

  1. Es gab eine Zeit, darin die Welt nicht war. (Zwischenkonklusion, aus 1,2)
  2. Kein Teil einer Zeit, darin die Welt nicht war, hat vor einem anderen irgendeine Bedingung des Daseins, die ihn vom Nichtsein unterscheidet.
  3. Wenn kein Teil einer Zeit vor einem anderen irgendeine Bedingung des Daseins hat, die ihn vom Nichtsein unterscheidet, dann ist darin kein entstehen irgendeines Dinges möglich.

  1. In einer Zeit, darin die Welt nicht war, ist kein Entstehen irgendeines Dinges möglich. (Zwischenkonklusion, aus 4,5)
  2. Die Welt ist ein Ding. (implizit)

  1. Das Entstehen der Welt ist unmöglich. (Zwischenkonklusion, implizit, aus 3,6,7)
  2. Etwas, das nicht entstehen kann, hat keinen Anfang in der Zeit. (implizit)

  1. Die Welt hat keinen Anfang in der Zeit. (Aus 8,9)

Kommentar

Formale Detailanalyse (optional)

Literaturangaben

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Leibniz unterscheidet zwei Arten von Maschinen: (i) Maschinen, die auch aus Teilen zusammengesetzt sind, welche selbst keine Maschinen sind, und (ii) Maschinen, die keine Teile enthalten, die selbst keine Maschine sind. Menschen können nur Maschinen der ersten Art schaffen, Gott auch Maschinen der zweiten Art. Alle Lebewesen sind nach Leibniz Maschinen der zweiten Art, d.h. "natürliche Maschinen."

Bibliographische Angaben

Gottfried Wilhelm Leibniz, Monadologie. 1714/1998. Stuttgart: Reclam.

Textstelle

So ist jeder organische Körper eines Lebewesens eine Art göttliche Maschine oder ein natürlicher Automat, der alle künstlichen Automaten unendliche übertrifft. Denn eine durch die Kunst des Menschen verfertigte Maschine ist nicht in jedem ihrer Teile Maschine. Ein Beispiel: Der Zahn eines Messingrades hat Teile oder Abschnitte, die für uns nichts Künstliches mehr sind und nichts mehr haben, was in Bezug auf den Gebrauch, für den das Rad bestimmt war, auf eine Maschine verweist. Die Maschinen der Natur aber, d.h. die lebenden Körper, sind noch in ihren kleinsten Teilen Maschinen, bis ins Unendliche. Dies macht den Unterschied zwischen der Natur und der Kunst aus, d.h. zwischen der göttlichen Kunst und der unsrigen. (Leibniz, Monadologie, § 64)

Argumentrekonstruktion

  1. Eine vom Menschen gefertigte Maschine ist nicht in jedem ihrer Teile Maschine.
  2. Die lebenden Körper sind noch in ihren kleinsten Teilen Maschinen (bis ins Unendliche).
  3. Alles, was nicht vom Menschen verfertigt ist, ist eine natürliche Maschine. (implizit)

  1. Lebende Körper sind natürliche Maschinen.

Kommentar

Sicherlich bedürfen die Prämissen einer tiefergehenden Analyse und Kritik. Prämisse 2 ist offensichtlich aus heutiger Sicht problematisch. Auch müsste in einer Diskussion des Argumentes z.B., näher bestimmt werden, was ein Ding zu einer Maschine macht.

Formale Detailanalyse (optional)

Der Schluss lässt sich wie folgt formalisieren:

  1. xMx¬Tx\forall x Mx \rightarrow \lnot Tx
  2. xLxTx\forall x Lx \rightarrow Tx
  3. x¬MxNx\forall x \lnot Mx \rightarrow Nx

  1. xLxNx\forall x Lx \rightarrow Nx

Legende:

  • Mx: x ist eine vom Menschen gefertigte Maschine
  • Tx: x ist in jedem ihrer Teile Maschine
  • Lx: x ist ein lebender Körper
  • Nx: x ist eine natürliche Maschine

Literaturangaben

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Gemäß der "absoluten Konzeption des Raumes", ist der Raum etwas unabhängig Existierendes, eine Substanz, ein "Behälter" der Dinge, welcher von diesen nicht verändert wird. Diese Vorstellung wird gewöhnlich Newton zugeschrieben. Leibniz vertritt hingegen eine "relationale Konzeption des Raumes", in welcher der Raum nicht unabhängig von den Dingen existiert. Wir rekonstruieren ein Argument von Leibniz gegen die absolute Konzeption des Raumes.

Bibliographische Angaben

G.W. Leibniz, 1716, Drittes Schreiben an Clarke, In Schüller, V., Hg. (1991). Der Leibniz-Clarke Briefwechsel. Berlin: Akademie.

Textstelle

Wäre der Raum ein absolutes Seiendes, so könnte sich auch etwas ereignen, wofür es keinen hinreichenden Grund geben kann, was aber meinem Axiom widerspricht. Ich beweise es hier folgendermaßen: Der Raum ist etwas vollkommen Homogenes und wenn sich in dem Raum keine Dinge befinden, so unterscheidet sich ein Raumpunkt von einem anderen Raumpunkt durchaus in nichts. Hieraus folgt nun aber (wobei angenommen wird, daß der Raum außer der gegenseitigen Ordnung der Körper noch irgend etwas an sich ist), daß es keinen Grund geben kann, warum Gott, die gleiche gegenseitige Lage der Körper beibehaltend, die Körper so und nicht anders in den Raum gesetzt hat. Warum ist nicht alles in umgekehrter Weise angeordnet worden, zum Beispiel durch Vertauschen von Ost und West? (Leibniz, Drittes Schreiben an Clarke, Absatz 5)

Argumentrekonstruktion

  1. Wenn der Raum ein absolut Seiendes ist, so gibt es den Raum, ohne dass sich Dinge in ihm befinden.
  2. Wenn es einen Raum gibt, in dem sich keine Dinge befinden, so unterscheidet sich ein Raumpunkt von einem anderen Raumpunkt nicht.
  3. Wenn sich ein Raumpunkt nicht von einem anderen unterscheidet, so gibt es keinen hinreichenden Grund dafür, dass Gott die Körper so und nicht anders in den Raum gesetzt hat (die gleiche gegenseitige Lage der Körper beibehaltend).
  4. Für alles gibt es einen hinreichenden Grund dafür, dass es so und nicht anders ist.
  5. Gott hat die Körper so und nicht anders in den Raum gesetzt.

  1. Der Raum ist kein absolut Seiendes.

Kommentar

Prämisse 4 ist das Prinzip vom hinreichen Grund (in einer möglichen Formulierung), welches Leibniz „als Axiom“ annimmt. Eine Diskussion des Argumentes könnte z.B. dieses Axiom oder Prämisse 5 näher analysieren. Hier stellt sich auch die Frage, ob der Bezug auf Gott für das Argument notwendig ist.

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Literaturangaben

Newton, I. (1687). Philosophiae Naturalis Principia Mathematica. London.

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Anselm v. Canterburys Überlegung aus dem 11. Jh. ist der vielleicht bekannteste Versuch eines Gottesbeweises. In der Literatur finden sich zahlreiche, oft fein ausgearbeitete Rekonstruktions- und Formalisierungsvorschläge. Wir stellen hier lediglich eine grobe Rekonstruktion vor und verweisen den Leser auf weiterführende Literatur.

Bibliographische Angaben

Anselm von Canterbury. Proslogion. Übers. von R. Theis. Stuttgart: Reclam, 2005.

Textstelle

Also sieht auch der Tor als erwiesen an, daß etwas, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann, zumindest im Verstande ist, weil er das, wenn er es vernimmt, versteht und weil alles, was verstanden wird, im Verstande ist. Und gewiß kann das, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann, nicht allein im Verstande sein. Denn wenn es auch nur allein im Verstande ist, kann gedacht werden, daß es auch in Wirklichkeit existiert, was größer ist. Wenn also das, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann, allein im Verstande ist, ist eben das, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann, eines, über das hinaus Größeres gedacht werden kann. Das aber ist doch unmöglich der Fall. Es existiert also ohne Zweifel etwas, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann, sowohl im Verstande als auch in Wirklichkeit. (Anselm, Proslogion 2)

Argumentrekonstruktion

  1. Gott ist das, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann.
  2. Gott existiert im Verstand.
  3. Etwas, das im Verstand und in der Realität existiert, ist größer als etwas, das nur im Verstand existiert.
  4. Wenn Gott nur im Verstand existiert, dann kann etwas gedacht werden, das größer ist als Gott.

  1. Gott existiert in der Realität.

Kommentar

Es gibt zahlreiche alternative und detailliertere Rekonstruktionen von Anselms Gottesbeweis, z.B. in Plantinga 1967, Lewis 1970, Adams 1971, Barnes 1972. Die historisch bekannteste Kritik findet sich in Kants Kritik der reinen Vernunft. Nach Kant geht das Argument fälschlicherweise davon aus, dass „Existenz“ ein „reales Prädikat“ sei.

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Literaturangaben

Adams, R., 1971, “The Logical Structure of Anselm’s Argument”, Philosophical Review, 80: 28–54. Barnes, J., 1972, The Ontological Argument, London: Macmillan. Kant, I., Kritik der reinen Vernunft 1781/1998. Hamburg: Felix Meiner. Lewis, D., 1970, “Anselm and Actuality”, Noûs, 4: 175–88. Plantinga, A., 1967, God and Other Minds, Ithaca: Cornell University Press.